Deutschland-Debatte:Letzter seines Stammes

In seinem neuen Spiegel-Essay gibt sich Botho Strauß als "der letzte Deutsche". Das klingt national, ruft aber eine Bekannte zurück: die radikale Kulturkritik, den Aufstand gegen die Alleinherrschaft des Ökonomischen.

Von Thomas Steinfeld

In einem der meistgelesenen Bücher der deutschen Literaturgeschichte stehen die Verse: "Gebt Raum, ihr Völker, unsrem Schritt, / Wir sind die letzten Goten. / Wir tragen keine Schätze mit, / Wir tragen einen Toten./ . . . / Wir tragen nur den König mit, / Die Krone ging verloren." Die Verse stehen fast am Ende des Romans "Kampf um Rom" des Königsberger Juristen Felix Dahn aus dem Jahr 1876. Durch Kampanien getragen wird darin König Teja, und mit ihm endet nicht nur die Herrschaft der Ostgoten über Italien, sondern auch die Geschichte seines Volks. Er ist einer von vielen Letzten ihres jeweiligen Stammes, die im neunzehnten Jahrhundert zu Grabe getragen werden: Ein solcher Letzter war Uncas, der Mohikaner (1826), und selbstverständlich waren auch die bretonischen Bauern in Honoré de Balzacs "Chouans" (1829) von dieser Sorte: zerlumpte Aristokraten, über deren Stand und Größe die Zeit hinweggegangen war. Und wenn eine alte Rockgruppe namens "Lynyrd Skynyrd" das Lied "The Last of a Dying Breed" (2012) anstimmt, dann weiß man, dass hier, wie so oft, die Populärkultur des 21. Jahrhunderts die Reste zusammenfegt, die das 19. Jahrhundert mit seinem Heldenkult zurückgelassen hat.

Was ist ein Deutscher, wenn nicht ein zerlumpter Aristokrat, über den die Zeit hinweggegangen ist?

"Ja, es ist mir, als wäre ich der letzte Deutsche", schreibt der Schriftsteller und Essayist Botho Strauß in einem Essay, den der Spiegel in seiner jüngsten Ausgabe veröffentlicht. "Manchmal habe ich das Gefühl, nur bei den Ahnen noch unter Deutschen zu sein." Als wollte das Magazin dem Autor in seinem Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein, besonders recht geben, wirbt es für den Aufsatz ihres prominenten Beiträgers, indem es auf einen berühmten alten Essay desselben Verfassers verweist: auf den "Anschwellenden Bocksgesang" aus dem Jahr 1993. Der Spiegel tut das vermutlich, weil der Essay weniger Anstößiges enthält, als es den Anschein hat. Wenn es heißt: "Ich möchte lieber in einem aussterbenden Volk leben als in einem, das aus vorwiegend ökonomisch-demografischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird", dann geht der Satz zuerst gegen die Ökonomie und die Spekulation, um dann eine Vorstellung von "Volk" dagegenzustellen, die nicht politisch sein, sondern aus Wissen, Dichtung und Gelehrsamkeit bestehen soll: "Der Irrtum der Rechten: als gäbe es noch Deutsche außerhalb der oberflächlichsten sozialen Bestimmungen.

Jenen Raum der Überlieferung von Herder bis Musil wollte noch niemand retten." Lesenswert ist der Essay in jedem Fall. Denn er birgt nicht nur eine Kritik an der Hilflosigkeit einer Gesellschaftskritik, wie sie gegenwärtig von populären Volkswirtschaftlern wie Thomas Piketty und Paul Krugman geboten wird. Ihnen wirft Botho Strauß hervor, im Namen einer gerechteren Verteilung des Reichtums demselben Ökonomismus anzuhängen wie die von ihnen Kritisierten. In diesem Essay werden zudem auch ein paar Ansichten aus dem Jahr 1993 revidiert: zum Beispiel der Glaube, es zögen jetzt "Konflikte herauf, die sich nicht mehr ökonomisch befrieden lassen". Gut zwanzig Jahre später ist es die Universalität der Geldwirtschaft, an der Botho Strauß Anstoß nimmt. Und überhaupt vermisst er, als wäre er ein alter Linker, die Kritik: "Uns wird die Souveränität geraubt, dagegen zu sein." Heftig grüßt hier Theodor W. Adorno und eine linke Kulturkritik, die glaubte, einer universalen "Verblendung" mit dem Versenden von "Flaschenpost" begegnen zu müssen.

Was sich aber in solchen Sätzen auch ausspricht, ist das Wissen darum, dass es keine Kritik ohne Pathos gibt - und dass in jeder wirklichen Kritik das Verlangen nach grundsätzlich anderen Zuständen waltet. Und das Wissen andererseits darum, dass in einer Gesellschaft, in der das Ökonomische zur zweiten Natur wurde, eine solche Kritik ebenso verfehlt und eigensinnig erscheinen kann wie ein Versuch, das Wetter zu kritisieren. Es kommen dann lauter Verhängnisse dabei heraus, lauter seltsame Verdrehungen - wie zum Beispiel der Einfall, der Herrschaft der "Konformitäten" mit einer Figur aus der Populärkultur zu begegnen, als letzter seines Stammes.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: