Ganz am Ende steht Ulrich Matthes als altersdepressiver Herr Geiser im Bühnennebel und zieht eine vorläufige Bilanz seiner Habseligkeiten: "Zucker ist keiner mehr da, aber Knäckebrot." Knäckebrot ist ein gutes Stichwort für diesen trockenen Abend, der langsam zerbröselt und nach nichts schmeckt. Thom Luz hat Max Frischs späte Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän" für die Bühne adaptiert, seine Inszenierung eröffnet die Spielzeit am Deutschen Theater Berlin.
Frischs vergrübelte Prosa ist denkbar handlungsarm. Ein alter Mann sitzt in seinem abgelegenen Haus im Tessin und lauscht dem Regen. Wie an letzten Wirklichkeitssplittern hält er sich an Zufallsfunden aus alten Zeitungen, kurzen Artikeln aus einem zwölfbändigen Lexikon und einzelnen Erinnerungen fest, während er den Kontakt zu seinem Leben zunehmend verliert. Sein Gedächtnis wird brüchiger, er scheint sich selbst dabei zu beobachten, wie er sich langsam auflöst. Das ist eine faszinierende Lektüre, als Theaterabend, der keine Form für diesen Stoff findet, ist es vor allem eines: quälend langweilig.
Szenen einer DDR-Jugend: Der Motor der Erinnerung treibt Fritz Katers "Buch. Berlin" voran
Dabei ist der junge Schweizer Thom Luz eigentlich ein Experte für atmosphärisch betörende Theaterabende ohne Handlung. Spätestens seit seine schön versponnene Inszenierung "Atlas der abgelegenen Inseln" im vergangenen Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen war, dürfte er den Geheimtipp-Status hinter sich gelassen haben und als aufstrebendes Talent gelten. Für die Atmosphäre müssen am Deutschen Theater viel Bühnennebel und hintereinander gestaffelte Gazewände sorgen, hinter denen die Bühne am Ende des Abends nur noch zu ahnen ist. Das ist eine recht plakative szenische Übersetzung für das Verdämmern des Bewusstseins, das Herr Geiser an sich beobachtet. Dass gebündelte Lichtstrahlen über Spiegel gelenkt werden, die Drehbühne gelegentlich in Gang gesetzt wird und das kleine Bühnenbildmodell die Bühne mit den an der Seite aufgereihten Klavieren neckisch verdoppelt, schafft auch keine größeren Reize. Die szenischen Aktiönchen, wenn etwa eine Fremdenführerin eine Gruppe Touristen über das abgelegene Tal im Tessin informiert oder aus verstimmten Klavieren Bachs "Kunst der Fuge" scheppert, sind seltsam hilflos und beliebig.
Auch dass Ulrich Matthes aus dem lakonisch nüchternen Beobachter Geiser jemanden macht, der etwas zu sehr von sich selbst ergriffen ist, kann keine nennenswerten Empfindungen auslösen. Als Petitesse in einem kleinen Hinterhof-Theater hätte diese Fingerübung möglicherweise ihren Charme. Bedeutungshubernd und prätentiös zum Saisonstart des größten Berliner Theaters aufgeblasen, verpufft dieses Gestocher im Nebel und ist schon während der sich arg lange hinziehenden 80 Minuten der Aufführung vergessen.
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Wie zur Ehrenrettung des Theaters gelingt Tilman Köhler auf der kleineren Bühne in den DT-Kammerspielen mit der zweiten Premiere eine schön direkte, fast schlackenlose Inszenierung von Fritz Katers Stück "Buch. Berlin (5 ingredientes de la vida". Hatte Armin Petras das Stück seines Alter Egos Fritz Kater bei der Uraufführung an den Münchner Kammerspielen noch mit viel Großkunstaufwand aufgepumpt, als habe er Angst vor den Gefühlen der Figuren, gelingt Köhler eine unverschnörkelte, lockere, empfindliche Inszenierung.
Das Stück ist in seinen besten Passagen ungeschützt persönlich. Szenen aus einer herben DDR-Jugend: Besuche beim alkoholkranken Vater im Krankenhaus, ein kaputter Alter, der früher mal ein zukunftsoptimistischer Wissenschaftler war. Szenen der Ostberliner Boheme der Achtzigerjahre: "Ich habe zwei Jahre von Reis, Brühwürfeln und Bier gelebt. Na und, hat es mir geschadet?" Szenen einer schwierigen Ehe im Jahr 2013, in der Künstleregozentrik und Angst um ein krankes Kind schmerzhaft kollidieren.
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Christoph Franken, ein hellwacher Benjamin Lille, Wiebke Mollenhauer, Matthias Reichwald, Linn Reusse und vor allem Jörg Pose, der den kaputten Vater und den sensiblen Anarcho-Sohn gibt, ohne sie zu denunzieren, wechseln zwischen Spiel und Bericht. Es ist traurig, aber nicht kitschig, wenn die einsamen Kinder auf dem Weg zum Trinker-Vater auf einem gottverlassenen S-Bahnhof frieren. Es ist lebensgierig, nicht sentimental, wenn Fritz Kater sich an eine Jugendliebe und das Gefühl von Freiheit bei einem sommerlichen Ausflug an einen See erinnert. Der Motor der Erinnerung ist es, der diese szenischen Skizzen vorantreibt und zusammenhält: "Wo war der, der ich hatte werden wollen? Und wer war das? Ich hatte ihn lange nicht gesehen." Und gute Musik machen sie bei ihrer Zeitreise in die eigene Jugend auch noch: Die Frage, ob man etwas von John McLaughlin spiele solle, wird stilsicher mit einem "bloß nicht" abgewehrt. Stattdessen gibt es "She's Lost Control" von Joy Division - der beste Soundtrack für jugendliche Depressionen, den man sich wünschen kann.