Süddeutsche Zeitung

Deutsches Kino:Wild, brutal, weiblich

Der Regisseur Jakob Lass verpasst der Berlinale mit "Tiger Girl" einen Adrenalinschock.

Von Tobias Kniebe

Was junge Frauen halt so sagen, wenn sie gerade ins Leben starten, mutig natürlich und voller Tatendrang: "Ich kann schon ganz gut auf mich selbst aufpassen."

Soll man Maggie (Maria Dragus) das glauben? Einerseits will sie Polizistin werden, ziemlich lange schon. Das spricht ja wohl dafür. Andererseits ist sie gerade erst durch die Polizeiprüfung gerasselt, der Barren war das Problem. Und der gut aussehende Mitbewerber, der es natürlich geschafft hat, löst Konflikte in ihr aus. Weil sie ihn zwar als Arsch erkennt, logisch, ist ja nicht zu übersehen. Und dann in seiner Gegenwart aber doch nichts Besseres zu tun hat, als ihren bewährten Rehkitzblick aufzusetzen und unsicher-suggestiv an ihren Perlenohrringen herumzuspielen.

Um solche Energien einzufangen, wurde der Kinematograf einst erfunden

Genau solche Widersprüche sind es, in die der Neuköllner Autorenfilmer Jakob Lass und seine eingeschworene Fogma-Gang mit ihrem Film "Tiger Girl" nun gnadenlos hineinfahren und damit der Berlinale und speziell der "Panorama"-Sektion einen regelrechten Adrenalinschock verpassen. Kaum hat Maggie ihr tapferes Credo der Selbständigkeit nämlich ausgesprochen, steht sie auch schon weit nach Mitternacht an einem einsamen Bahnsteig der Berliner U-Bahn, drei fremde, völlig zugekokste Spaßvögel um sie herum. Viel zu nah schon, gar nicht mehr komisch, de facto ist sie eingekreist, und einen Baseballschläger haben die drei auch dabei.

Ruhe bewahren, beruhigend auf die Volltrottel einreden - das ist nun die gelernte Option. Blöd nur, dass es die einzige ist. Und wie toll, mal ehrlich, wäre jetzt eine Alternative, die sich ein bisschen weniger kläglich und erniedrigend anfühlt?

Aber hey, wofür ist das Kino da! Schon mal einen Superheldenfilm gesehen? Wie aus dem Nichts taucht in diesem Moment eine Kriegerin auf, die sich einen Scheiß um Beruhigung schert. Verschwindet, ihr Schweine, brüllt sie, und das ist schon die finale Warnung. Dann wirbeln Beine in Camouflage-Leggins durch die Luft, rotleuchtende Sneaker schlagen krachend in Koksfressen ein, weibliche Fäuste zermatschen Männerfleisch. Und der Baseballschläger? Der rollt der geschockten Maggie so einladend vor die Füße, dass sie ihn einfach aufheben muss, um ihre Retterin ein bisschen zu unterstützen.

Das ist, natürlich, der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Die als reine Wunscherfüllung beginnt, bald zu einer Art Entwicklungsroman der weiblichen Selbstermächtigung mutiert, von der Subversion aller Autoritäten handelt und schließlich in eine Machtergreifung mündet, die ihrerseits wieder starken Faschismusalarm auslöst. Normales deutsches Kino ist das nicht, sagen die Macher. Sondern "wilder, gefährlicher und brutaler - mit einem Wort: weiblicher".

Wie dieser Satz ist der Film: angeberisch, provokant, überraschend, bei genauerer Betrachtung vielleicht auch ein bisschen schwachsinnig, auf jeden Fall aber brutal auf den Punkt. Die Energien, die er entfesselt, werden weit über die Berlinale hinausreichen und definitive Reaktionen einfordern. Mehr kann man von einem zweiten Spielfilm ja nun wirklich nicht verlangen.

Aber zurück zu der Retterin in der Nacht, die sich nun als "Tiger" vorstellt - einen anderen Namen hat sie nicht. Welches Drama in ihren pechschwarzen Haaren, welches Blitzen in ihren Augen, welcher Swing in ihrem Schritt! Sie braucht nur herausfordernd in die Gegend zu schauen und sich tatendurstig die Lippen zu lecken, schon brennt da eine Supernova durch die Leinwand, ein unbezwingbarer Glaube an die eigene Kraft und Freiheit, eine unverschämte Lust am Existieren, am Jungsein, am Augenblick.

Um solche Energien einzufangen, wurde der Kinematograf einst erfunden. Und es bleibt, aller Ablenkungen zum Trotz, noch immer seine vornehmste Aufgabe. Es geht hier also im Grunde darum, der 22-jährigen Schweizerin Ella Rumpf zuzuschauen, die jetzt durch ihre Rolle als Tiger sicher ein großer Star werden wird: ihren weitgehend improvisierten Bewegungen, ihren weitgehend improvisierten Dialogen, ihren sorgsam choreografierten Kampfszenen. Und dann noch zu realisieren, dass dies eine Sternstunde ist, die so bald nicht wiederkommt, vermutlich nicht einmal für Ella Rumpf selbst. Denn so ist das nun mal mit den Sternstunden der unbesiegbaren Jugend.

So mythisch ist ihre Erscheinung am Anfang jedenfalls, dass man zunächst an eine Art "Fight Club"-Geschichte denkt. In der Tiger dann so wenig real wäre wie seinerzeit Brad Pitt - eine Abspaltung der Psyche, eine Rückkehr all der unerfüllten In-die-Fresse-Fantasien, die eine Frau im Laufe ihres Lebens zu unterdrücken lernt, verkörpert in einer dunklen Doppelgängerin. Dieser Verdacht verliert sich aber, denn dafür ist Maggie als Schülerin zu eigenwillig. Statt bei der Polizei macht sie bald eine Ausbildung bei einem privaten Sicherheitsdienst, und sie ist es auch, die Tiger - diesseits ihrer Martial-Arts-Fähigkeiten eine Lebenskünstlerin, die in einem alten Bus wohnt und sich aus Autorität gar nichts macht - auf die Sache mit den Uniformen bringt. In schwarzen Overalls, auf denen "Security" steht, ziehen die beiden danach durch die Parks, drangsalieren Kiffer, zwingen Poser, ihre T-Shirts wieder anzuziehen, klauen Fahrräder und später auch Geldbörsen. Die Macht der Uniform erweist sich vor allem für Maggie, die schnell zur Streberin der Eskalation wird, als toxisch: Bald werden auch Frauen verprügelt, die Widerworte geben, schließlich landet auch mal ein spontaner Volltreffer im Gesicht einer älteren Dame, die einfach nur das Pech hatte, des Weges zu kommen. Das geht Tiger dann zu weit. Sie sieht ihre Prinzipien verletzt, auch wenn sie diese nie recht benennen kann. So kommt es zum Bruch. Die Befreiung von Konventionen und Rollenerwartungen ist zwar geglückt, dafür hat Tiger nun ein Monster geschaffen. Und richtig gefährlich wird es, als Maggie eine Waffe in die Hand bekommt und beschließt, sich ihren Lebenstraum zu erfüllen und endlich eine echte Polizeiuniform anzuziehen.

War "Tiger Girl" als eine Art gewalttätiges Echo auf den "Hauptmann von Köpenick" gedacht, wo ebenfalls ein falscher Uniformträger die Macht ergreift, die Staatsgewalt und die Bürger narrt und dabei alle Sympathien auf seiner Seite behält? Ein wenig klingt es so, wenn Jakob Lass und seine Mitstreiter, allen voran die Produzentin-Autorin Ines Schiller und der Produzent-Komponist Golo Schultz, ihre Intentionen beschreiben. Da ist viel vom französischen Widerstandsdenker Michel Foucault die Rede, von der Überwachungsgesellschaft und der Mikrophysik der Macht. Auch "Love Steaks", ihr erstes großes Werk, war ein zutiefst antiautoritärer Liebesfilm, geboren aus Improvisationslust, Widerstandsgeist und einer schlanken, fokussierten Produktionsweise, die unter dem Schlachtruf "Fogma" an die dänische Dogma 95-Idee anknüpfte und zugleich für "Fuck Dogma" steht.

In Straßenschlachten alle plattmachen und dann mal schauen, wie weit man kommt

Je weiter die Brutalisierung in "Tiger Girl" aber voranschreitet, desto klarer wird, dass es Lass und seiner Gang im Grunde wie ihrer Titelheldin geht - auch sie haben da ein Monster geschaffen, das sich in der Vielschichtigkeit seiner Energien und Assoziationen immer mehr der Kontrolle entzieht. Sich irgendwelche Fantasieuniformen anziehen, in Straßenschlachten alle plattmachen und dann mal schauen, wie weit man kommt - war das nicht auch die Strategie von Hitlers Braunhemden? Und Tigers Schlüsselsatz "Du musst einfach sagen, was du willst, und dann kriegst du's auch", könnte genauso gut das Motto einer anderen, sehr viel aktuelleren Machtergreifung sein. Am Ende bleibt da wirklich nur eine Gewissheit: Wenn schon Rüpel die Welt beherrschen müssen, die ihre dunkelsten Impulse unkontrolliert ausleben - dann dürfen es zur Abwechslung ruhig auch mal junge Frauen sein.

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Quelle:
SZ vom 11.02.2017
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