Deutsches Kino:Ganz unten

Reise nach Jerusalem

Die Männer, die Armut – alles ein Problem für Alice (Eva Löbau).

(Foto: Filmperlen)

Wenn sich die Arbeitslosigkeit nicht mehr verbergen lässt: Lucia Chiarlas ebenso beklemmendes wie klarsichtiges Spielfilmdebüt "Reise nach Jerusalem" malt den Abstieg des kreativen Prekariats in die Armut aus.

Von Anna Steinbauer

Kurz vor dem wichtigen Bewerbungsgespräch bricht der Eckzahn ab. So kann Alice dort auf keinen Fall auftauchen - Geld für den Zahnarzt hat sie allerdings auch nicht. Denn die Berlinerin ist arbeitslos, schon länger. Und mittlerweile Profi im Vertuschen ihrer prekären Verhältnisse.

Alice, 39, ist die Protagonistin von Lucia Chiarlas Spielfilmdebüt "Reise nach Jerusalem". Ihrem Umfeld gaukelt sie vor, als freie Redakteurin zu arbeiten. In Wirklichkeit hält sie sich mit Marktforschungsjobs kaum über Wasser. Als das Arbeitsamt ihr Geld kürzt, weil sie ein demütigendes Bewerbungstraining abbricht, beginnt sie, aus dem System zu fallen.

Mit reduzierten filmischen Mitteln und einer grandiosen Eva Löbau in der Hauptrolle malt Lucia Chiarla die Abstiegsangst der gut ausgebildeten, flexiblen Enddreißiger bis ins unangenehmste Detail aus. Die italienische Regisseurin trifft das Lebensgefühl einer Generation, die sich Kreativität auf die Fahnen schrieb, für eine Festanstellung morden würde und niemals eine Rente bekommen wird. Egal ob beim Telefonanbieter, beim Friseur und im Job - Alice kommt einfach nicht an die Reihe. Wie bei der titelgebenden "Reise nach Jerusalem" auf dem Kindergeburtstag ist der letzte Platz immer schon weg.

Alice schreibt unzählige Bewerbungen und kassiert eine Absage nach der anderen. Tapfer macht sie weiter, trifft sich mit den alten Kollegen, trinkt den ganzen Abend nur ein kleines Bier und versucht, die erfolgreiche Freiberuflerin zu spielen. Zu groß ist der Stolz, Arbeitslosigkeit empfindet sie als persönliches Versagen. Im Skype-Bewerbungsgespräch stammelt sie Floskeln, während die Internetverbindung immer wieder zusammenbricht. Im Supermarkt muss sie all ihr Kleingeld für die Kartoffeln zusammenkratzen, hinter ihr bildet sich eine Schlange. Extreme Nahaufnahmen mit Augenringen und Hautunreinheiten erzeugen ein Gefühl der Verelendung. Oft ist Alice symbolisch im unteren Bildteil platziert.

Und doch: Immer wieder blitzen auch Momente anarchischer Gewitztheit auf. Als Alice an der Supermarktkasse eine Packung Schokokekse zurücklassen muss, weil sie zu wenig Geld hat, begegnet ihr kurz darauf ein Mädchen, das sie zuvor beim Diebstahl einer Traube beobachtet hat. Das Kind kaut nun genüsslich die Kekse - Alice reißt ihm die Packung aus der Hand und haut ab.

In seinen besten Momenten erreicht Chiarlas Film ein Gefühl existenzieller Beklemmung. Man kann nur ahnen, dass die Regisseurin weiß, wovon sie erzählt. Im Presseheft steht, der Film wurde "ohne Produktionsförderung oder Beteiligung eines Senders mit geringem Budget - aber mit viel Eigenengagement - realisiert". In diesem Satz steckt Widerständigkeit, und gänzlich ohne Hoffnung ist der Film nicht. Das Drama mit dem ruinierten Eckzahn etwa nimmt eine unerwartete, charmante Wendung, zwischen Demütigung und hysterischer Selbsterkenntnis. Am Schluss ist das kaputte Gebiss sogar für ein Lächeln gut.

Reise nach Jerusalem, D 2018 - Regie und Buch: Lucia Chiarla. Kamera: Ralf Noack, Steve Scholl. Mit Eva Löbau. Verleih: Filmperlen, 120 Minuten.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: