Deutscher Liedermacher:Das Tagebuch des Reinhard Mey
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Auf "Mr. Lee", seinem 27. Studioalbum, verarbeitet der unermüdliche Liedermacher den Tod seines Sohnes.
Albumkritik von Dorothea Grass
Mey bleibt Mey. Eher verregnetes Sonntagsgefühl statt Beachparty auf Malle, eher Normalo statt Krawallo, Lederjacke und Strickschal statt Nietengürtel und Zigarillo, Familienalbum statt Action Painting, Pausetaste statt Fast Forward. Mit 73 Jahren und 50 Jahre nach seinem Debütalbum "Ich wollte wie Orpheus singen" hat der alte Meister des deutschsprachigen Liedes eine neue Platte mit dem kryptisch anmutenden Titel "Mr. Lee" aufgenommen. Die Stimme ist ein bisschen brüchiger geworden, aber das ist nur der erste Eindruck. Unter der Oberfläche bleibt die Klangfarbe: warm. Mit demselben Raunen, mit dem Generationen aufgewachsen und älter geworden sind, "Mein kleines Apfelbäumchen" oder "Gute Nacht, Freunde" gehört haben, erzählt Mey nun, was ihn in den vergangenen Jahren beschäftigt hat. Und das ist alles andere als Sonnenschein.
Wer Reinhard Mey-Lieder kennt, weiß so einiges über den Mann. Darüber, wie er seine jungen Jahre verbracht hat (mit "Annabelle" etwa), welche Hobbys er hat ("Über den Wolken" auf Startbahn Null-Drei oder dem "Einhandsegler"), wie viele Kinder, was er an seiner Frau besonders mag, dass er keine Tiere isst und auch nicht ihre Felle trägt. Mey-Alben sind Tagebuch-Bände. Auch diesmal zieren das CD-Booklet wieder Fotos aus seinem Privatleben.
Mey war nie Rock 'n' Roll
Mey war schon immer derjenige, der in seinen Liedern Stillleben des Alltags malte. Während alle anderen weiterhechelten im Trott, packte Minnesänger Mey seine Gitarre aus und hielt mit scharfem Reim drauf: auf die Ungerechtigkeiten, Marginalien und Schönheiten des Lebens oder auf die eigenen Kauzigkeiten. Das war nie Rock 'n' Roll, weil Mey nie Rock 'n' Roll war. Das war schon immer tendenziell leise und wortzentriert, ohne den großen Krach und das ironische Höhöhö.
Die neue Platte erzählt davon, wie ein zuvor vom Lebensglück verwöhnter Mensch den wohl schwersten Schicksalsschlag hinnehmen muss: den Tod eines Kindes. "Alle guten Dinge müssen enden" singt Reinhard Mey im ersten Stück des Albums und sorgt dafür, dass die Worte direkt im Hals des Hörers landen, wo sie wie ein Kloß anschwellen. In den Neunzigern war "Aller guten Dinge sind drei" ein erfolgreiches Lied über Meys drei - damals noch kleine - Kinder. "Wenn's Wackersteine auf dich regnet" sorgt für weitere Schluckbeschwerden, "So lange schon" ist gesungene Trauerarbeit mit sauber interpunktierter Grundehrlichkeit. Von Meys Text-Handwerk können sich die Revolverhelden der deutschen Charts noch einiges abgucken.
Mey ist am besten, wenn er nahe dran bleibt an seinen erlebten Geschichten. Wenn er sich schämt für etwas, was er als Schuljunge getan hat. Wenn er orientierungslose Greise mithilfe eines Berghain-Türstehers und dessen Pitbull zurück ins Altersheim bringt. Oder wenn er einfach seinen dicken Kater besingt. Dann, wenn Mey rekapitulierend durch sein Dichter-Okular schaut, gelingen ihm Zeilen wie: "Es ist manchmal, als surrte vor mit der alte Projektor. Als spulte ich den Super-acht-Film noch einmal zurück. Ich seh das lang Vergangene wie die Gegenwart aufleuchten, doch ich kenne die Zukunft schon und das Ende vom Stück."
Es ist in Ordnung, wenn man mit Anfang Siebzig wehmütig wird. Alles andere wäre aufgesetztes Tralala, und ganz und gar nicht Mey. Am Ende tut es auch nichts zur Sache, wer genau "Mr. Lee" ist. In seinem 27. Studioalbum erinnert der unermüdliche Liedermacher zuweilen an das flotte Mundwerk, das allgegenwärtige Freiheitsthema und das Anti-Spießertum des jungen Mey. Besonders in Zeilen wie diesen: "Der junge Mann mit dem bunten Irokesen. In schneeweißer Schürze, so stolz steht er da. Hält prüfend die Gläser ins Licht hinterm Tresen. Auf dem Arm ein Tattoo, nur ein Wort: Libertà."