Süddeutsche Zeitung

Deutscher Film:Wir kümmern uns

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Meine Geschwister und ich: Für "Idioten der Familie" schöpft der Filmemacher Michael Klier aus seinem eigenen Leben.

Von Anke Sterneborg

"Die Brüder sind da", ruft eine Frauenstimme in den Garten, einer jungen Frau zu, die dort selbstvergessen irrlichternd Blumen gießt. Ein wenig gleicht sie einer Fee, durchlässig und unberechenbar, Ginnie wird sie genannt, was ein bisschen klingt wie der Dschinn aus den arabischen Märchen.

Ohne Vorwarnung wird man als Zuschauer mitten in diesen Garten, in ein Haus am Stadtrand von Berlin und die komplexe Dynamik unter den drei Brüdern und zwei Schwestern hineingeworfen, die sich, wie sich bald herausstellt, hier im Elternhaus zum letzten Mal gemeinsam einfinden. Man muss sich langsam orientieren, aus kleinen Bemerkungen am Rande und mal verhaltenen, mal ruppigen Reaktionen die Teile einer Familiengeschichte zusammensetzen, mit all den Rückständen vergangener Verletzungen und verdrängter Wahrheiten, von Eifersucht und Schuld. Ginnie ist das Nesthäkchen der Familie, sie ist geistig behindert und wurde viele Jahre von ihrer älteren Schwester Heli (Jördis Triebel) versorgt. Die will jetzt mit einem Mann ein neues Leben beginnen, und Ginnie soll ins Heim, nach diesem gemeinsamen Abschiedswochenende, an dem noch mal alles aufbricht.

Michael Klier erzählt kleine Geschichten aus dem wirklichen Leben. Statt fordernd zu inszenieren, beobachtet er eher geduldig, mit dokumentarischem Gespür, schaut da genauer, wo andere sich lieber abwenden. In "Überall ist es besser, wo wir nicht sind" folgte er einem jungen Polen auf der Flucht über Ost- und Westberlin nach Amerika. In "Ostkreuz" spürte er dem Alltag in den Wohncontainern von Flüchtlingen und Umsiedlern nach, und in "Heidi M." begleitete er eine Frau Mitte vierzig in der Existenzkrise. "Mich interessiert der mentale Zustand der Gesellschaft", sagt er und schöpft dabei immer wieder auch aus der eigenen Autobiografie.

Nach neun Jahren Spielfilmpause seit "Alter und Schönheit" ist er dieses Mal besonders nah an der eigenen Geschichte, auch er hat mehrere Brüder und Schwestern, eine davon ist - wie Ginnie - geistig behindert und seit dem zwanzigsten Lebensjahr im Heim. "Aber wir kümmern uns um sie", sagte er. In der einfachen Situation scheinen komplexe Fragestellungen auf, über die Rivalität unter Geschwistern, die alle mit ihren Lebensentscheidungen hadern. Das ist eben die ältere Schwester, die sich immer gekümmert hat, dann der erstgeborene Sohn (Kai Scheve), der als Konzertpianist dem Vater nacheifert, der mittlere (Hanno Kofler), der sich in die Ungebundenheit eines freien Musikerlebens geflüchtet hat, und der jüngste, ein Intellektueller (Florian Stetter), dessen Weltverbesserergeschäftigkeit sich in unangenehm überheblichen Monologen entlädt, die undankbarste Rolle, vielleicht gerade weil diese Figur auch Stellvertreter des Regisseurs ist.

Die geistig behinderte Schwester hat eine Stärke, die ihren vier Geschwistern fehlt

Neben den intimen Rivalitäten geht es auch um gesellschaftliche Fragen, um das Abwägen zwischen individueller Lebensverwirklichung und solidarischer Verantwortung für Schwächere. Ganz spontan wirft der sympathischste unter den Brüdern ein, er könne sich ja um Ginnie kümmern. So ernst das in diesem Moment gemeint ist, so überfordert wäre er.

Unter dem Druck der Verhältnisse scheint das Haus fast zu ächzen, nur einmal gibt es einen Ausbruch aus dem Kammerspiel, ins Freie, zu einem Jungen, mit dem Ginnie sehr zur Überraschung der Geschwister ein intimes Verhältnis hat. Lilith Stangenberg spielt Ginnie auf eine geheimnisvoll irritierende Weise, so wie nur sie derzeit eine geistige Behinderte spielen kann, ganz ohne exaltierte Ausbrüche, eher in sich gekehrt, aber auch mit der unbeugsamen inneren Stärke, die sie schon in der engen Beziehung zu einem Wolf in Nicolette Krebitz' "Wild" durchscheinen ließ. Damit setzt sie sich auch gegen die Übergriffigkeiten ihrer Brüder zur Wehr. Zu den Idioten dieser Familie gehört sie nicht.

Idioten der Familie , D 2018 - Regie: Michael Klier. Buch: Karin Aström, Michael Klier. Kamera: Patrick Orth. Schnitt: Katja Dringenberg. Musik: Tilmann Dehnhard. Mit: Lilith Stangenberg, Jördis Triebel, Kai Scheve, Hanno Kofler, Florian Stetter. Verleih: farbfilm, 102 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 12.09.2019
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