Deutscher Debütroman:Verwandlungs­musik in Deutsch-Athen

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Zwischen Blumen und Büchern: Der Schriftsteller Emanuel Maeß, geboren 1977 in Jena, dem intellektuellen Zentrum der deutschen Frühromantik. (Foto: Emanuel Maeß)

Emanuel Maeß erneuert mit "Gelenke des Lichts" die Tradition romantischen Erzählens.

Von Gustav Seibt

Unwahrscheinlich schön schreibt Emanuel Maeß in seinem Erstlingsroman "Gelenke des Lichts". Unwahrscheinlich in einem doppelten Sinn: Erstens, weil diese Sprache aus ferner Vergangenheit zu kommen scheint, so fein rhythmisiert weiß sie Landschaften, Stimmungen und Bewusstseinszustände in schwingende Satzbauten zu bringen, als habe die Romantik nie aufgehört. Zweitens, und das ist die größere Unwahrscheinlichkeit, hat sie gar nichts Rückwärtsgewandtes oder platt Nostalgisches, sie bleibt historisch bewusst und vermeidet die Hohlheit der Stilkopie. Der Überschwang, die Welt-, Natur-, ja Schöpfungsseligkeit dieses Stils scheint immer wieder vor sich selbst zu erschrecken und sich sacht zur Nüchternheit zu zwingen. Vor allem aber ist er unglaublich genau.

Die erste Seite, ein klassisches Proömium, setzt den Ton. "Vor einigen Jahren, als ich einen Abend lang vergeblich auf dich wartete, ergab sich die Gelegenheit, wieder einmal einem Mond zuzusehen." Das ist schön gedämpft und leise lächelnd - wann nimmt man schon "Gelegenheit", wieder einmal dem Mond zuzusehen? Dieser geht dann "gelassen und ein wenig selbstgefällig", aber in "ewigen Bahnen" über die nächtliche Landschaft mit "Reihenhaussiedlung" und "Talseite", einem neuen und einem alten Wort also. Zunächst wenig Feierlichkeit: "Wäre darin ein geheimer Zuspruch verborgen gewesen, hätte ich ihn vermutlich überhört."

Dann aber muss doch die ganze Astronomie, das Sternengewölbe herhalten, die Mondkraft mit Flut und Ebbe und Monat und weiblicher Regel, um den Nachthimmel gebührend weit zu spannen. Wir sind da auf der zweiten Seite erst, und ein Dutzend Motive wurde schon angeschlagen; man ahnt es, das Weitere bestätigt es: Keines geht verloren.

Viel später, der Erzähler ist erwachsen geworden, hat sein Elternhaus verlassen und studiert nun in der Romantikerstadt Heidelberg, blickt er wieder so weit hinaus, diesmal in den Sonnenuntergang hinüber zum Rhein: "Auch der Himmel, mit dem ich noch eine Weile hermeneutische Folgeprobleme erörterte, stand im Stau des Berufsverkehrs und zog dem großen Gestirn in langen Rotphasen nach. Unter mir das Sinnbild aller Erstsemesterhoffnungen; Deutsch-Athen, der Strom, der in die Ebene ausfloss, über der die Wolkenschatten miteinander rangen, Waldgewell über Bergrücken und Nebentälern, die geborstene Pfalzburg, Kitsch und Gartenlaube des Neubeginns." Wann im Leben hat man ein Recht, so feierlich zu sein? Doch wohl am Beginn seines Studiums, samt Hermeneutik-Altklugheit. Nur, das mit der Feierlichkeit muss man können. Maeß kann es.

Diese 250 Seiten bedeuten für den Empfänglichen eine unablässige Kette von Entzückungen, am liebsten sehr langsam zu lesen. Dass es Leser geben wird, denen das nichts sagt, sondern sogar auf die Nerven fällt, ist zu prognostizieren, aber auch zu verschmerzen. Die fein austarierte Perfektion, die Dichte des Gewebes, die Fülle sinnlicher Anschauungen, die Einzelschönheiten also, können sogar vergessen lassen, dass dieses Buch ein Roman ist, eine Art Entwicklung zeigt, einen Grundriss hat. Man könnte es nämlich auch wie ein prosalyrisches Brevier gebrauchen.

Der Held entstammt dem protestantischen Pfarrhaus und dem Werratal auf der DDR-Seite

Das Buch erzählt die Geschichte eines jungen Mannes im Vierteljahrhundert zwischen 1980 und den frühen Nullerjahren. Der Ich-Erzähler ist Sohn eines Landpfarrers und einer Landärztin im verstecktesten Teil, den Deutschland zu jener Zeit überhaupt vorweisen konnte: unmittelbar hinter der Staatsgrenze der DDR, auf der östlichen Seite, im Werratal, dort wo ein thüringischer Bauch ins Hessische hängt. Das Dorf mit seiner alten, innen barockisierten Kirche liegt am Fuße des Krayenbergs und da die Google-Maps-genauen, Adalbert-Stifter-haft präzisen Landschaftsbeschreibungen nicht trügen können, sei hier das originale Vorbild schon bekannt gegeben: Es ist der Flecken Vachdorf. Im Buch heißt er "Urspring" (solche Namen gibt es unweit auf der Rhön) und er soll nahe am geografischen Mittelpunkt Deutschlands gelegen sein. Hier ist das Zentrum, der Punkt, um das herum sich die Geschichte in immer weiteren Kreisen entfaltet.

Was ist das für eine Geschichte? Zunächst, es ist keine DDR-Geschichte. Keine dieser schmerzhaft-schmuddelwettrigen Wende-Nachwende Roman-Reportagen, die vom Ordnungs- und Autoritätsverlust, jugendlicher Selbstüberlassenheit, verzweifelnden Elternautoritäten handeln, von rechten und linken Prügeljugendlichen. Das Pfarrhaus war schon in der DDR eine Welt für sich, tief in der Zeit verankert, daran ändert auch die Wende nichts.

Bücher, Hausmusik, alte Möbel, Blumengärten, Wolken und Felder - da ist die Geschichte nur ein weiteres Kapitel nach vielen vorangehenden, zum Beispiel dem Dreißigjährigen Krieg und den Hexenverfolgungen. Blätter einer Chronik, nicht mehr, verbucht in eleganten Asides. Wenn es einen DDR-Bezug gibt, dann ist er indirekt, weil in der staatsfernen konfessionellen und regionalen Nische eben eine Bildungskontinuität weiterleben konnte, die nun eben dieses Buch ermöglicht.

Es zeigt eine Liebesgeschichte. Aber diese ist so aus der Zeit gefallen, dass man ein wenig in Lektüreerinnerungen kramen muss, um sie zu verstehen. In seiner Knabenzeit verkuckt sich der Held in ein Mädchen namens Angelika, das er fortan meist von ferne anschwärmt, gelegentlich trifft, dem er einmal sogar erotisch nahekommt, in einem absichtsvoll unpersönlichen Geschehen. Doch diese Angelika ist kaum mehr als ein abstrakter Sehnsuchtspol wie die Angebeteten in der Minne-Dichtung.

Wer in einem Buch, das so voller Philosophie ist, nach Botschaften sucht, wird verloren gehen

Der Roman erwähnt fast überdeutlich Dantes "Vita Nova", Petrarcas Laura, er hätte auch die Fiametta des Boccaccio nennen können - ferne Frauenbilder, die ihre Verehrer in unentwegter Spannung halten, ohne ihnen Berührungen zu gewähren, eher platonische Gestirne zur Seelenelevation als anfassbare Wesen. Darum ist das Buch auch völlig unpsychologisch, Seele ist hier eine Menschenkraft, nichts Individuelles. Am Schluss wird Angelika endgültig verlassen zugunsten eines sokratischen Daimonions, in einem Riesensprung hinauf in den kosmischen Sphärenhimmel, so als müsse der Autor beweisen, dass ihm gar nichts unmöglich ist.

Dass Angelika mit Nachnamen "Schmidbauer" heißt, gehört zu den Ernüchterungen, die hier wohltuend den eigenen Erdboden markieren. Das Buch ist nämlich auf eine allerdings so versteckte Art witzig, dass mancher das übersehen könnte. Die von Minne-Spannung getragene Geschichte - äußere Stationen sind ein Gymnasium in Meiningen, das Studium in Heidelberg, eine Zeit in Berlin, dann in Cambridge, eine Fachkonferenz in Soglio, der Alpenschwelle zwischen Schweiz und Italien -, diese Geschichte muss man wohl als Bildungsroman bezeichnen.

Aber die Entwicklung, die er zeigt, ist nur eine Entfaltung, ein fast vegetatives Wachstum oder eine Rilkesche Steigerung in weiteren Kreisen, keine Bildung an Welt, Beruf oder Irrtümern, keine Wilhelm-Meister-Spannung zwischen Kaufmannsleben und Schauspielerei, keine Disproportion des Talents mit dem Leben. Es geht ums Lesen, Musikhören und befeuerten Austausch darüber, in den Cambridge-Passagen auch um Geselligkeiten mit sehr symbolisch gefassten Figuren. Richard Wagner ist ein so großer Eindruck, dass er nicht nur die Sprache mit allerlei Alliterationen infiziert, sondern als "Verwandlungsmusik" an einer Stelle sogar den Handlungsfortgang übernimmt - ein literarischer Geschicklichkeitsbeweis, den man mit einem kleinen Lächeln quittiert.

Vieles Große wird mit unbeirrtem Selbstbewusstsein aufgegriffen, Hölderlin, Goethe, Jean Paul, Nietzsche, während das zeitgenössische Universitätsleben mit allerdings zu leichter kulturkritischer Geste abgetan wird - einen "Beruf" kann es jedenfalls nicht bieten. Aber was alle diese intellektuellen Bezüge überwächst, sind die mit unglaublicher Virtuosität geschilderten Landschaften, nach Werra und Neckar die englische Dörfer- und Gartenwelt, später die Felsengebirge der Schweiz.

Der Roman zeigt eine Steigerung um ihrer selbst willen, und daran werden sich die Geister auch scheiden. Wer keine Freude daran hat, dies wie ein Musikstück auf sich wirken zu lassen, wer in einem Buch, das so voller Philosophie ist, Botschaften sucht, wird verloren gehen. Und natürlich können einem bösen Blick auch stilistische Fehler auffallen, gerade weil hier alles so heikel tariert ist: Wörter wie "fluten" oder "wogen" zum Beispiel verwendet Maeß ein paar Mal zu oft.

Wem all das zu feierlich klingt, darf sich an ein anderes Buch erinnern lassen, das genau gegenüber vom Werratal auf der westdeutschen Seite im damals sogenannten Zonenrandgebiet spielte: Eckhard Henscheids letzter Roman "Maria Schnee". Dort setzte ein Martinshorn den Eichendorff-Ton in der Sternennacht. Das war 1988. Heute greift Emanuel Maeß den romantischen Ton auf, und siehe: Es geht.

Emanuel Maeß: Gelenke des Lichts. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 252 Seiten, 20 Euro.

© SZ vom 05.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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