Süddeutsche Zeitung

Deutscher Buchpreis 2016:Gewonnen hat der zweite Favorit

Zu leidenschaftlich, zu leichtgewichtig, zu krass: Mit Bodo Kirchhoff gewinnt der Elder Statesman der deutschen Literatur den Deutschen Buchpreis. Der Jury fehlte am Ende der Mut.

Kommentar von Christopher Schmidt

Am Ende konnten sich die starken Leidenschaften, die man zu erspüren meinte, doch nicht durchsetzen, fehlte der Jury vielleicht der letzte Mut zu sich selbst. Diese Leidenschaften hatten Thomas Melle bis in die Endrunde des mit 25 000 Euro dotierten Deutschen Buchpreises getragen, obwohl sein Buch "Die Welt im Rücken" über seine bipolare Störung (SZ vom 15. Oktober) kein Roman ist und damit ein formales Kriterium der Auszeichnung nicht erfüllt.

Gewonnen hat der zweite Favorit, Bodo Kirchhoff, ein erfahrener Autor und elder statesman der deutschsprachigen Literatur. Sein parabelhafter Roman "Widerfahrnis", der im Untertitel als "Novelle" firmiert, sei "ein vielschichtiger Text, der auf meisterhafte Weise existenzielle Fragen des Privaten und des Politischen miteinander verwebt und den Leser ins Offene entlässt", heißt es in der Begründung der Jury.

"Widerfahrnis" ist ein sehr altes, anachronistisches Wort für das, was einem widerfährt. Das passt zu den Hauptfiguren, dem Kleinverleger Julius Reither, der seinen Verlag und seine Buchhandlung aufgegeben hat, und Leonie Palm, die ihr Hutgeschäft aufgegeben hat. Die dritte Hauptfigur der Novelle ist das Buch im Buch, das Leonie Palm geschrieben hat. Es begleitet das Road Movie eines Mannes und einer Frau jenseits der fünfzig, Richtung Süden, bis nach Sizilien, eine Reise der Vergewisserung über Verluste.

Gediegene Verbindung von Aktuellem und Zeitlosem

Reither hat eine Geliebte und ein Kind verloren, für dessen Abtreibung er war. Die Frau eine Tochter. Eine Liebesgeschichte wird erzählt, die zugleich eine Reflexion über das Verhältnis von Leben und Schreiben ist. Die Gegenwart bricht in Gestalt eines Mädchens, das aus der Welt der in Sizilien gestrandeten Flüchtlinge zu stammen scheint, in die gepflegte Melancholie ein und besetzt die Leerstelle der Verluste. Kirchhoff verknüpft sein altes Thema mit einem sehr aktuellen, doch der Knoten wird so elegant geschlungen, dass das politische Großthema zum Dekor zu werden droht. Die Begegnung des Paares mit der Welt der Flüchtlinge bringt Unruhe in die Figuren, aber nicht in das wohltemperierte Erzählen.

Mit dieser gediegenen Verbindung von Aktuellem und Zeitlosen wirkt Kirchhoff wie die Idealbesetzung für einen Preis, der den Buchhandel beleben soll. Chancenlos waren Eva Schmidt und Reinhard Kaiser-Mühlecker mit ihren introvertierteren, literarisch feinstofflicheren Romanen. André Kubiczeks "Skizze eines Sommers" wiederum schien dann doch allzu leichtgewichtig, der Debütant Philipp Winkler mit seinem Frontbericht aus der Hooligan-Szene zu krass. Nachdem der aktuelle Literaturnobelpreisträger Bob Dylan als Treibriemen für den Buchhandel ausfällt, muss nun also Bodo Kirchhoff das Weihnachtsgeschäft rocken.

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Quelle:
SZ vom 18.10.2016/ees
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