"Das Ungeheuer" von Terézia Mora:Ein Stammgast des Unglücks

Terezia Mora

Mit ihrem Roman "Das Ungeheuer" steht Terézia Mora auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2013.

(Foto: dpa)

Mit ihrem Roman "Das Ungeheuer" gehört Terézia Mora zu den Favoriten für den Deutschen Buchpreis 2013: Sie schickt darin den Helden auf eine Reise durch den Balkan - und konfrontiert ihn mit dem Tagebuch seiner Frau.

Von Karl-Markus Gauss

Wir sind ihm schon im letzten Roman von Terézia Mora begegnet, dem übergewichtigen IT-Spezialisten Darius Kopp, der in "Der einzige Mann auf dem Kontinent" das Kunststück zuwege brachte, geradezu empörend arg- und harmlos und trotzdem sympathisch zu sein. Als einziger Angestellter einer dubiosen amerikanischen Firma für drahtlose Netzwerke in Europa konnte er die längste Zeit nicht begreifen, was im Boom seiner Branche geschah und endlich ihm selbst widerfuhr.

Noch ehe er einen kritischen Gedanken zu fassen imstande gewesen wäre, hatte er seinen Job schon verloren, ein Opfer jenes überhitzten Kapitalismus, den er selbst stets verteidigte und für das Naturgegebene hielt. Gott sei Dank stand ihm, der in einer überständigen Pubertät stecken geblieben war, eine tüchtige Frau zur Seite, die Ungarin Flora, die in Berlin als Übersetzerin zwar nicht recht reüssierte, aber als Kellnerin immerhin das nötige Geld verdiente.

Vier Jahre später treffen wir neuerlich auf Darius, in dem monumentalen, einfallsreich komponierten und mit erzählerischer Wucht vorangetriebenen Roman "Das Ungeheuer", der ein ganz anderes Licht auf die beiden Eheleute wirft. Der unverdrossen lebensfrohe Darius, nun ist er ein verwahrloster, in sein Unglück vernarrter Mitvierziger, der seit zehn Monaten die Wohnung nicht verlassen hat, sich vom Pizzadienst Nahrung bringen lässt, einmal täglich das Zimmer lüftet und heillos in seiner Verzweiflung gefangen ist.

Wie wenig darf man als Ehemann von seiner Frau wissen?

Denn Flora, die starke Flora, die fester in der Realität zu wurzeln schien als der träumerische, auch ein wenig oberflächliche Darius, ist tot, schlimmer: hat sich im Wald erhängt. Noch schlimmer: Auf ihrem Computer hat sie Tagebücher, Notate, Beobachtungen, Übersetzungen hinterlassen, bei deren Lektüre dem ratlosen Witwer bewusst wird, dass er seine Frau nicht gekannt hat; dass sie, mit der er zehn Jahre zusammen war, neben ihm gelebt hat, ohne sich ihm in ihren Nöten und Ängsten zu offenbaren, eine Fremde, die es am Ende vorzog, lieber zu sterben, als mit ihm zu leben. Damit ist Darius nicht nur um die gemeinsame Zukunft mit Flora gebracht, sondern auch um die Vergangenheit mit ihr. Wie wenig darf man als Ehemann von seiner Frau wissen? Hat er mit seiner Unaufmerksamkeit nicht schwere Schuld auf sich geladen?

Zehn Monate nach dem Tod Floras spricht ein Freund Darius ins Gewissen: "Du hast also beschlossen, ein Penner zu werden. Nur nach einem Anlass gesucht, um alles fallen lassen zu können." Doch Darius widerspricht: "Ich bin kein Penner, ich trauere." Er besteht darauf, auch gegenüber einer Ärztin, nicht depressiv zu sein, sondern zu trauern. Damit greift er, greift Terézia Mora nebenhin die aktuelle Debatte darüber auf, dass in der durchtherapierten Gesellschaft die Trauerzeit immer kürzer geworden ist. Wurde vor zwanzig Jahren jenen, die ihr Liebstes verloren hatten, noch das ganze sprichwörtliche Trauerjahr zugebilligt, wird heute den trauernden Hinterbliebenen, wenn sie keine Bereitschaft zeigen, unverweilt wieder zu guter Laune zu finden, bereits nach sechs Wochen nahegelegt, sich therapeutisch behandeln oder medikamentös aufhellen zu lassen. Aber Darius, der Angepasste, erweist sich vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben als wirklich renitent, er ist nicht bereit, sich aus seiner Trauer zu erheben, ist sie doch das Einzige, das ihn mit Flora noch verbindet. Und diese Trauer möchte er sich nicht krank reden lassen.

Mit ihren Texten im Gepäck, die eine Studentin für ihn aus dem Ungarischen übersetzte, macht er sich auf den Weg dorthin, von wo Flora einst kam und worüber sie niemals mit ihm sprechen wollte, nach Ungarn. Dass sie ihre Tagebücher auf Ungarisch verfasst hat! Das alleine schon muss Darius als Verrat von Flora oder als sein eigenes Versagen deuten, hatte er doch unbefragt für wahr gehalten, was sie geradezu wütend behauptete, dass sie nämlich mit ihrer Herkunft gebrochen und sich von Ungarn nicht nur räumlich, sondern auch geistig und seelisch völlig getrennt habe.

Balkanisches Roadmovie

Dass sie sich mit ihren geheimen Niederschriften einen Raum erschuf, in dem alles - die Sprache, ihre Erinnerungen, ihre Selbstreflexionen - von ihrer ungarischen Herkunft bestimmt war, muss er erst verkraften. So fährt er eines Tages los, und im Auto hat er nicht nur die Tagebücher Floras dabei, in denen er ihr Geheimnis und die Versäumnisse seiner Ehe zu entdecken hofft, sondern auch die Urne mit der Asche seiner Frau, der Fremden, die er liebt und immerhin verspätet verstehen lernen möchte.

Als Darius auf die lange Reise geht, die ihn von Ungarn über Kroatien, Albanien bis nach Armenien und endlich nach Griechenland führen wird, befinden wir uns im Roman auf Seite 83, und ab da ändert der Text sein Schriftbild. Jede Seite wird horizontal knapp unterhalb der Mitte von einem Strich geteilt. Oberhalb des Strichs folgen wir Darius auf seiner Reise in eine fremde Welt, unterhalb davon können wir lesen, was Flora ihrem Computer anvertraut hat: demütigende Szenen aus ihrer Kindheit, demütigende Szenen aus ihren ersten Jahren in Berlin, Versuche, die Dichtungen von Lajos Kassák, einer emblematischen Gestalt der ungarischen Avantgarde, oder von János Pilinszky, einem düsteren christlichen Existenzialisten, zu übersetzen, aber auch Kochrezepte und immer wieder, in exzessiver Länge dargeboten, Ausschnitte aus psychiatrischen Fachbüchern. Bis zur Seite 441, wenn der Roman wieder ganz auf die Trauerreise von Darius einschwenkt, lesen wir also zwei verschiedene, sich fortschreibende Texte auf jeder Seite.

Das klingt komplizierter, als es ist. Moras Kunstgriff erzwingt keine bestimmte Form der Lektüre. Man kann einfach im oberen Text zwanzig, dreißig Seiten lesen und dann die Lektüre des unteren nachholen, man kann aber auch auf jeder Seite von oben nach unten, von Darius' großem Trauergesang zu Floras düsteren Aufzeichnungen springen; nötig ist es nicht, denn die beiden Ebenen sind zwar aufeinander bezogen, aber nicht so, dass sich stets zwischen ihnen eine Entsprechung fände, also der Gedankenstrom von Darius exakt mit Floras Aufzeichnungen auf derselben Seite zu tun hätte.

Am Ende liegt Darius am Boden

Überhaupt, der typografisch auffällige Kunstgriff ist für den Roman nicht von solchem Belang wie etwas anderes, das ihn literarisch tatsächlich bestimmt und die Leser fordert und beglückt: die besondere Erzählperspektive. Terézia Mora hat sich einen gewissermaßen beweglichen Erzähler einfallen lassen, der im selben Absatz mehrfach von der Außenperspektive auf eine Figur zu deren Innensicht wechselt.

In der folgenden Passage erinnert sich Darius an "sie", an Flora, als sie Kellnerin war, dann wird er selbst von außen charakterisiert und endlich in seinem Selbstgespräch gezeigt: "Sie lächelt. In unserem Dachgeschoss schien immer die Sonne, Lichtflecken überall, auf ihrem Hals, in ihrem Haar, sie wirkte vollkommen wiederhergestellt, jung und zu Taten aufgelegt. Darius Kopp hatte dennoch kein gutes Gefühl. Ich kann unmöglich getrennt sein von dir. Werde ich eben dein Stammgast." Die Leichtigkeit, mit der Mora ihre Figur bald in die Distanz schiebt, ihr bald näher rückt, um schließlich aus deren Bewusstsein zu erzählen, zeugt von großer Könnerschaft.

Über 600 Seiten ist der Roman als eine Art Roadmovie angelegt, und ein solches hat meist nicht nur elegische, sondern auch komische Seiten, wie sie sich aus den Unwägbarkeiten des ziellosen Fahrens, aus den kauzigen Charakteren, denen der Reisende begegnet, und den unerwarteten Situationen, in die er gerät, ergeben. Mora weiß ihren unglücklichen Darius immer wieder in höchst witzige Vorkommnisse zu verstricken, ohne dass damit sein Elend relativiert würde. Dennoch hätte das balkanische Roadmovie, mit allem Respekt gesagt, auch um ein-, zweihundert Seiten kürzer sein können.

Aber Terézia Mora setzte vielleicht darauf, das eine solche Reise durch den wilden Osten Europas für hiesige Leser immer noch ihre exotischen Reize hat. Gleichwohl ist ihr ein bewegender Roman gelungen, der zu Herzen geht und eine Autorin zeigt, die über ihre stilistischen Mittel souverän verfügt, ihre Sache mit kompositorischer Raffinesse angeht und mit psychologischem Feingefühl verfolgt. Zu Recht steht sie mit diesem Buch auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2013.

Am Ende liegt Darius am Boden, in einer Straße von Athen, durch die gerade eine wütende, zur Gewalt gereizte Masse von Demonstranten jagte; aber er wird sich wieder erheben, und was er dann mit sich, seiner Trauer, seinem Leben machen wird, davon zu lesen darf man sich schon jetzt auf den abschließenden Band von Terézia Moras Trilogie freuen.

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