Süddeutsche Zeitung

Deutscher Alltag:Und das schlechte Gewissen?

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Nach Irland und zurück kann man für nicht mal hundert Euro fliegen. Man sollte schon einmal dabei sein, wenn ein irischer Sänger sein Herz ausschüttet. Oder nicht?

Kurt Kister

Es ist wieder einmal nötig, über die modernen Zeiten zu sinnieren. Vor Monaten sagte ein Freund, er sei sehr beeindruckt von einem irischen Sänger, den nahezu sein Herz niedergestreckt habe, der aber trotzdem und immer noch Balladen und Irisches spiele. Also beschäftigte man sich mit Christy Moore, dem Sänger. Tatsächlich, das ist so einer, der auch heute noch zur Gitarre über Sacco und Vanzetti oder den spanischen Bürgerkrieg singt. Das ist schön, jedenfalls für etwas ältere Menschen, die irgendwie jener Zeit nachtrauern, in der Linkssein noch romantisch war und Gregor Gysi jenseits der Mauer in der SED.

Man lud sich also etwas Christy Moore herunter. (Gewiss, das ist unromantisch, schon allein weil man früher im Plattenladen gelegentlich glotzte, ob da vielleicht ein nettes Mädchen einen ähnlichen Geschmack hatte, wie man selbst.) Dann mailte man (auch unromantisch) mit dem Freund hin und her, auch über den Sänger Moore. Es entstand der Gedanke, eines seiner Konzerte zu besuchen.

Der Rest sind die modernen Zeiten. Im Internet fand man viele Moore-Termine, darunter etliche, wen wundert's, in Irland. Nach Irland und zurück kann man für nicht ganz hundert Euro fliegen. Ein ziemlich billiger Mietwagen bringt einen zum Ort des Konzerts. Dort übernachtet man in einem nicht teuren Hotel, das ebenfalls, wie alles andere, über das Internet zu buchen ist. Eigentlich alles ganz normal.

Nein, nicht normal. Wenn man es genau bedenkt, ist es fast so, als seien heute die Grenzen von Raum und Zeit nicht völlig, aber doch weitgehend aufgehoben - jedenfalls für einen Mitteleuropäer, der nicht jeden Cent umdrehen muss. Man kann von seinem Wohnzimmer aus ein Wochenende in Irland mit Christy Moore organisieren. Das ist nicht komplizierter, als wenn man als Münchner eine Bergwanderung am Herzogstand plant. Wenn man vom Berg runterkommt, isst man am Walchensee ein Schnitzel. Wenn man übers Wochenende nach Irland fliegt, trinkt man am Samstag in Drogheda drei Guinness.

Und das schlechte Gewissen? Die Erderwärmung? Vielleicht ist es uncool, wegen zwei Stunden Musik ans Ende Europas zu fliegen, wohin früher die Wikinger zwei Wochen mit dem Drachenboot unterwegs waren, um dann Klöster zu plündern. Andererseits wird man auf dem Weg von Dublin nach Drogheda an den alten Freund Henry Glass denken, der mal beim Spiegel arbeitete, leider längst tot ist und Halb-Ire war. Man wäre mit ihm fast einmal in Klagenfurt wegen des trunkenen, zu lauten nächtlichen Absingens irischer Lieder verhaftet worden.

Solche Lieder singt auch Christy Moore.

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