Deutscher Alltag:Zonengrenze brauchen wir nicht

Alte Stellhäuschen mit zerschmetterten Fenstern, verrottende Lagerhäuser: eine Art Nachkriegsbrache. Wer sich wundern möchte, wie es in Deutschland wirklich aussieht, muss Bahn fahren.

Kurt Kister

Unter Journalisten und anderen körperbewussten Nebenerwerbsintellektuellen war es einmal eine Zeitlang sehr in Mode, an der ehemaligen Zonengrenze langzuwandern. Viel gab es zu lesen über die "grüne Narbe", die sich durch Deutschland ziehe, und all jene Tiere, welche sich da angesiedelt hätten, wo es keine Menschen gegeben habe, nur Stacheldraht und Selbstschussanlagen. Kaninchen auf dem Kolonnenweg, Biber im einstigen Grenz-Sumpf.

Diskussion über Bahn-Teilprivatisierung - Stillgelegte Schienen

Zwar werden die Züge nicht mehr von Tieffliegern beschossen, aber es könnte gut sein, dass in dem einen oder anderen Gestrüpp da hinten bei den stillgelegten Schienen noch so ein zerschossener Zug liegt.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Etliches an peripatetischer Philosophie wurde auf diesen Gängen geboren und leider auch verbreitet; manche Familiengeschichte und manches Trauma arbeiteten die Schnürstiefel-Schreiberlinge auf. Wenn ein Fotograf mitkam, suchte der gerne nach wucherndem Grün über noch erhaltenen Betonteilen. Mitten in Deutschland und so.

Ist ja o.k., aber wer sich darüber wundern möchte, was es mitten in Deutschland wirklich gibt, muss Bahn fahren. Nein, es soll hier nicht das hundertundsiebzehnte Klagelied über die Unzulänglichkeiten der Bahn gesungen werden. Der deutsche Bahnfahrer ist, so wie der deutsche Vorfahrtsstraßenbenutzer und der deutsche Blitzkriegsinnenstadtradfahrer, stets im Recht. Wenn die Bahn einmal sieben Minuten Verspätung hat, beschwert sich der Bahnfahrer beim Verkehrsminister Ramsauer und macht den Kapitalismus (Börsengang!) verantwortlich.

Als Gelegenheitsbahnfahrer aber nimmt man wahr, dass man zwar einerseits mit dem Zug mitten in die Stadt gelangt. Andererseits aber tut man das auf einer Trasse, die sich meistens durch eine Art Nachkriegsbrachgelände zieht. Links und rechts der Geleise stehen längst funktionslos gewordene Stellhäuschen (macht jetzt der Computer) mit zerschmetterten Fensterscheiben. Verrottende Lagerhäuser sieht man kurz vor der Einfahrt in den Hauptbahnhof, und ein Kiesgelände mit verbogenen Metallteilen weckt den Verdacht, man habe nicht Mannheim erreicht, sondern Tirana.

Dass es in Berlin an den Bahnlinien so aussieht, nimmt man ja noch als normal hin. Schließlich ist Berlin Berlin, und wenn es mal einen Tatort geben sollte, in dem man die Leiche eines hochrangigen Bahnmanagers findet, dann muss dies, nicht nur aus phänotypischen Gründen, Berlin sein. Aber selbst auf den Bahngeländen in Wohlstandsstädten wie München oder Stuttgart glaubt man, durch eine Zeitfalte nach Mitte 1950 geraten zu sein. Gewiss, zwar werden die Züge nicht mehr von Tieffliegern beschossen, aber es könnte gut sein, dass in dem einen oder anderen Gestrüpp da hinten bei den aufgebogenen Schienen noch so ein zerschossener Zug liegt. Zonengrenze brauchen wir gar nicht. Es reicht der Hauptbahnhof.

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