Süddeutsche Zeitung

Deutsche Theaterlandschaft:Flucht eines Kulturfunktionärs

Einst Kunst des belebten Augenblicks, nun Verpflichtung zum Historismus: Der deutsche Bühnenverein träumt davon, dass der Titel Weltkulturerbe das deutsche Theater retten wird. Die Zukunft der Schauspielhäuser würde das allerdings eher verschlechtern.

Von Thomas Steinfeld

Es gibt in Deutschland gut 14.000 Tankstellen. Ihre Zahl schrumpft gegenwärtig nur noch um etwas mehr als hundert pro Jahr. Ende der sechziger Jahre hatte es dreimal so viele gegeben. Es gibt in Deutschland aber auch etwas mehr als 6000 Museen. Das ist das Doppelte der Zahl, die für das Jahr 1980 registriert wurde. Zwar kommen im Augenblick, anders als vor der Jahrtausendwende, nicht mehr viele neue Museen hinzu. Doch können viele kleine, auch halböffentliche Museen von der Statistik gar nicht erfasst werden.

Eher verborgen schließlich sind, anders als die Tankstellen, die unzähligen privaten Sammlungen, die oft mit nicht minder großem philologischen und kuratorischen Aufwand betrieben werden als die öffentlichen Anstalten zur Aufbewahrung, Pflege und Präsentation des Kulturerbes in jeglicher Art. Und weil diese Sammlungen nicht nur immer denselben Gegenständen gelten, sondern weil sich die Register des Bewahrenswerten unablässig erweitern, scheinen der Musealisierung Deutschlands keine Grenzen gesetzt zu sein. Nie, zu keiner Zeit gab es so viel organisierte Geschichte, so viel buchstäblichen Konservatismus, so viel historische Sentimentalität wie heute.

Einen großen Schritt in Richtung Musealisierung werden an diesem Wochenende die deutschen Theater versuchen. Kommt alles, wie geplant, wird der Deutsche Bühnenverein auf seiner Jahreshauptversammlung in Kiel beschließen, sich an die deutsche Unesco-Kommission zu wenden, damit die "deutsche Theaterlandschaft" eines Tages den Status eines "Weltkulturerbes" verliehen bekommen soll. Ein solches Ansinnen hat es zwar schon einmal, vor gut zehn Jahren gegeben, als Antje Vollmer, damals Vizepräsidentin des Bundestags, im Namen der Grünen für die Aufnahme der "deutschen Theaterlandschaft" in den Katalog der ewigen Dinge plädierte. Allerdings knüpfte sie den Vorschlag an einige Bedenken, eine "längst zur hohlen Geste verkommenen Provokationshaltung" betreffend. Ähnliche Gedanken, nur umgekehrt, hegten damals auch die Funktionäre des Theaterwesens: Sie fürchteten, die künstlerische Arbeit könne unter der Pflicht zum Bewahren eines "Erbes" leiden, und verzichteten auf den Antrag.

Überlebensfantasien am äußersten Ende

Die Verhältnisse liegen nun offenbar anders. Klaus Zehelein, der Präsident des Bühnenvereins, verweist auf verlorene Arbeitsplätze, auf die Erosion der Tarifverträge, auf Häuser, die wirtschaftlich unter Kuratel von Kommunen oder Regierungspräsidenten stehen. Der Titel "Weltkulturerbe" scheint für ihn vor allem Sicherheit zu bedeuten: Rettung vor den Zudringlichkeiten der Politik, Schutz vor Kürzungen von Budgets, eine Garantie auf Erhaltung der Bestände. Am äußersten Ende solcher Überlebensfantasien mag die Hoffnung schimmern, dass in einiger Zukunft im Theater gar nichts mehr verändert oder reduziert werden darf, weil dann - siehe Dresdner Elbbrücke - der Entzug des Weltkulturerbe-Titels droht. Dass mit solcher Sicherheit allerdings nicht nur ein paar kühne kulturpolitische Behauptungen verbunden sein müssen, sondern dass auch jede dieser Behauptungen eine handfeste Anmaßung enthält, scheint beim Bühnenverein keiner zu bedenken.

Die erste dieser Behauptungen ist die "deutsche Theaterlandschaft" selber: Sie ist, in ihrem Reichtum und ihrer Vielgestalt, ein Vermächtnis der deutschen Kleinstaaterei und der langen Abwesenheit einer nationalen bürgerlichen Öffentlichkeit. Kann man ein solches Erbe unter Bestandsschutz stellen? Müsste man, wenn man diesen Gedanken ernsthaft betreiben wollte, nicht eher dem deutschen Föderalismus ein Fortleben in musealer Gestalt gewähren? Und wie sollte das gehen?

Die zweite Behauptung ist die Einzigartigkeit dieser Landschaft. Sie unterstellt nämlich nicht nur, dass im deutschen Theater etwas Besonderes zu erleben sei, sondern auch, dass es andere, minder schützenswerte "Theaterlandschaften" gebe: Denn was ist mit dem englischen, mit dem italienischen, mit dem russischen Theater? Sollen nach und nach auch sie zum "Weltkulturerbe" erwählt werden? Oder taugen sie dafür nicht und gehören verworfen? Die Initiative des Deutschen Bühnenvereins mag ein Versuch zur Notwehr sein. Aber es steckt darin ein erhebliches Maß an bürokratischer Borniertheit.

Die dritte und stärkste Behauptung aber ist der Anspruch auf Rettung. Oder genauer: Was hat man sich unter der "deutschen Theaterlandschaft" vorzustellen, die da geschützt werden soll? Gleicht sie Weltkulturerbe-Stätten wie der Altstadt von Bamberg oder den "Alten Buchenwäldern", der Völklinger Hütte oder den prähistorischen Pfahlbauten am Bodensee? Nichts von alledem. Zur "Theaterlandschaft" gehören zwar Häuser und Bühnenmechaniken, Eintrittskarten und Garderobenständer in unvergleichlich großer Zahl: Um die hundertfünfzig öffentliche Theater mit Vollbetrieb gibt es in Deutschland, ungefähr genauso viele Spielstätten ohne festes Ensemble, und es kommen mindestens dreihundert private Theater hinzu.

Aber nichts von alledem ergibt eine "Landschaft". Eine solche entsteht erst durch Aufführungen, die es sich zu besuchen lohnt. Das heißt: durch Dramen, Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen, Bühnenbildner und vor allem durch ein Publikum, das sich interessiert und sich begeistern lässt. Sie alle sind im "Weltkulturerbe" nicht vorgesehen.

Nur zum Schein gerettet

Das "Kulturerbe", die vermeintlich rettende Instanz, ist daher die Titelfantasie eines sich auf der Flucht befindenden Kulturfunktionärs. Sie hat, wie alle bürokratischen Träume, eine schäbige Kehrseite: Sie egalisiert alle Inhaber des Titels. Und sie lässt sich, eben weil sie egalisiert, auf Beliebiges erweitern. Siebenunddreißig Stätten des "Weltkulturerbes" gibt es ja schon, allein in Deutschland. Was aber wäre für das Theater gewonnen, wenn es sich im Status der Erwähltheit mit dem Oberen Mittelrheintal vergleichen könnte?

Und noch etwas richtet die Titelfantasie an: Sie erzwingt die Abstraktion von allen Inhalten. Sie ist ein Surrogat, ein Schatten. Ein gerettetes Theater wäre kein besseres Theater, sondern vermutlich ein schlechteres. Denn als "Erbe" ausgezeichnet werden ausschließlich Errungenschaften und Monumente der Vergangenheit. Weder das, was ist, noch das, was sein wird, fallen unter diese Kategorie. Das Theater wird sich also überlegen müssen, was es sein will: Lebendige Kunst, Risiken und Verluste inbegriffen, oder Vermächtnis mit Bestandsgarantie. Und wenn es auch möglich wäre, beides zu verbinden, in selten glücklichen Fällen, so ginge es doch nur in Gestalt eines Erbes in vollem Betrieb.

Die Idee, es müsse gerettet werden, was überhaupt gerettet werden kann, ist der beliebteste kulturpolitische Einfall der Gegenwart. Doch was unter dieser Prämisse gerettet wird, ist gerettet nur zum Schein. Denn müssten nicht auch die historischen Tankstellen gerettet werden? Die Kaolin-Bergwerke in der Oberpfalz? Sechsundzwanzigtausend Volkswagen-Käfer mit H-Kennzeichen? Ein jedes Ding, das aufgenommen wird in die Listen des Bewahrenswerten, scheint einen unabweisbaren Sinn zu erwerben, deutlich unterschieden von der grauen Masse der achtlos beiseitegelegten Gegenstände. Je mehr aber die Erwartungen so konzentriert werden sollen, je mehr Dinge oder Ereignisse es gibt, auf denen das helle Licht des öffentlichen Interesses ruhen soll, desto weniger Erleuchtung gibt es dabei zu gewinnen. Das liegt allein schon an der Zahl. Das Theater war einmal eine Kunst des belebten Augenblicks. Und bei allem Historismus, den es sich jetzt zur Aufgabe machen will - wenigstens daran könnte es sich doch erinnern.

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Quelle:
SZ vom 24.05.2013/kath
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