Deutsche Pop-Geschichte:Frisch aufgeladene Batterie

Ein Akustik-Trio mit ehemaligen Bandmitgliedern von "Ton Steine Scherben" hält deren Songs am Leben

Von Martin Pfnür

Knapp ein halbes Jahrhundert ist es jetzt also her, dass sich in der bundesrepublikanischen Exklave West-Berlin ein Haufen Junganarchos im anhaltenden Aufbruchsgeiste der Achtundsechziger zu etwas zusammenschloss, das mit der schnöden Zuschreibung Rockband nicht mal im Ansatz beschrieben ist. Obrigkeitstriezende Hausbesetzer und aufs Land flüchtende Visionäre, hungernde Lebenskünstler und per Plenum entscheidende Kommunarden, sloganbegabte Aufwiegler und empathische Trostspender, mainstreamverweigernde und vom Mainstream verweigerte Miterfinder des Do-It-Yourself-Prinzips samt Eigenlabel, selbst gefalzten Plattencovern und im Fall von "Keine Macht für niemand" auch mal einer beigelegten Zwille - das alles und noch viel mehr waren Ton Steine Scherben um den 1996 verstorbenen Frontmann und Texter Rio Reiser.

Eine Band, deren facettenreiches Schaffen heute zwar einerseits etwas vom eigenen Mythos zwischen regelmäßigen Polizeirazzien im besetzten Rauch-Haus, vermeintlichen Auftragsarbeiten für die RAF oder der gelebten Kommunen-Utopie nach dem Umzug in einen Bauernhof im nordfriesischen Fresenhagen überlagert wird - deren rebellischer Impetus und subversiv-konspirative Aura andererseits jedoch bis heute einen geistigen Nährboden für nachgeborene Musiker jeglicher Couleur bildet. Seien es Bands wie Die Sterne oder Blumfeld, die in den Neunzigern auch mal einen griffigen Scherben-Slogan in ihre Songs einstreuten; unermüdlich engagierte Alt-Punks wie Die Goldenen Zitronen; Hip-Hopper wie Jan Delay, der auf seinem Solo-Debüt "Searching For The Jan Soul Rebels" im Geiste der Scherben gegen Kleingeistigkeit und Konsumverblödung ansang; oder heute etwa die mit großer Verve gegen Rechts eintretende Punkrock-Band Feine Sahne Fischfilet, die über Jahre den Verfassungsschutz auf den Plan rief.

Ton Steine Scherben

Widerstand aus Überzeugung: Funky Götzner, Gymmick und Kai Sichtermann (v. l.).

(Foto: Fabian Widmann)

"Eine gesunde Demokratie braucht konstruktive Provokateure", sagt Kai Sichtermann, der als Bassist zu den Gründungsmitgliedern der Scherben zählt. Seit vier Jahren hält er zusammen mit dem 1974 dazugestoßenen Drummer Klaus "Funky" Götzner am Cajón und dem Nürnberger Liedermacher Tobias Hacker alias Gymmick als neuem Sänger und Gitarristen den Songkatalog der 1985 hochverschuldet aufgelösten Band live am Leben.

Gut 150 Auftritte haben die drei als Akustik-Trio über die Jahre absolviert und dabei von den frühen Slogan-Reißern wie "Macht kaputt was euch kaputt macht" über erhebende Balladen wie "Halt dich an deiner Liebe fest" bis hin zu den oftmals bereits in den Siebzigern entstanden Songs des Reiser-Solo-Werks wie "König von Deutschland" nahezu sämtliche Schaffensphasen der Scherben aufgefangen. Als reines Nostalgie-Projekt verstehen sie sich trotzdem nicht, was allein schon die bunte Melange auf dem mit diversen ehemaligen Scherben-Mitgliedern eingespielten Album "Radio für Millionen" beweist. Neue Nummern treffen dort sowohl auf erstmals vertonte Songs Reisers wie "Ich dreh mich um" (den dieser 1976 als Wahlkampfunterstützung für Helmut Schmidt schrieb) als auch auf energetisch interpretierte Live-Aufnahmen wie jene vom "Rauch-Haus-Song" im Akustik-Gewand. Erst kürzlich habe man wieder ein neues Lied ins Programm genommen, erzählt Gymmick. "Wir bleiben drin!" handle vom ausufernden Miet- und Spekulanten-Wahn. "Rio hat in den Siebzigern den ersten Vers und eine Melodie geschrieben und wir haben den Text nun um zwei Verse und einen Refrain erweitert."

Es ist auch dieser Ansatz des sorgsamen Anknüpfens und Weiterwebens, der das Projekt zu einem hörenswerten macht - von der Aktualität vieler Songs wie etwa dem obig erwähnten ganz zu schweigen. Denn tatsächlich fällt vieles von dem, was die Scherben als Kollektiv und Reiser als Solo-Musiker anprangerte, heute in seiner Abgründigkeit sogar noch greifbarer und bedrohlicher aus als damals. "Alles Lüge" und "Menschenfresser" von Reisers erster Solo-Platte "Rio I.": blitzgescheite Kommentare zum "Fake News"-Phänomen, respektive dem breitbeinigen Populisten-Gebaren, mit dem es jemand wie Donald Trump zum Präsidenten bringen kann. Das groovige "Mein Name ist Mensch" vom Scherben-Debüt "Warum geht es mir so dreckig?": ein gerade über seine simple Botschaft von der Gleichheit aller Menschen immens kraftvolles Statement gegen den neu aufkeimenden Rassismus. Klar sei man mittlerweile, wie vielleicht auch der eine oder andere Song, etwas in die Jahre gekommen, sagt Funky Götzner. "Aber wenn man hört, mit welcher Leidenschaft auch die jungen Leute auf unseren Konzerten mitsingen, fühlt sich das alles ganz und gar nicht nach muffigem Gesangbuch an. Eher nach frisch aufgeladener Batterie."

Kai und Funky von Ton Steine Scherben mit Gymmick, Donnerstag, 25. April, 20 Uhr, Backstage, Reitknechtstr. 6

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