"Ein Klavier, ein Klavier" lautet, Loriot ohne Spaß, der Befehlston für den Berliner "Ring des Nibelungen". Ein ausgewachsener Konzertflügel hat Wagners symphonisches Musikdrama geentert. Regisseur Stefan Herheim ist überzeugt, das größte Opus der Operngeschichte brauche dringend ein Solo-Klavier, als "musikalisch-optisches Tor zur Fantasie". Nur für die Augen, nicht Ohren: Ab und an setzen sich Wotan, Siegfried und Co. an den schwarzen Kasten, "bespielen" stumm die Tasten, derweil das Orchester unter Chefdirigent Donald Runnicles die Klangwogen bezwingt und die lyrischen Emotionen streichelt.
Der Konzertflügel fristet nur ein symbolisches Dasein, für Herheim bedeutet das stückfremde Instrument, teilt er im Programmheft betroffen mit, "ein Scharnier und ein heiliger Altar der künstlerischen Exekution zugleich". Am Klavier habe Wagner sein Werk geschaffen, ein Klavier bleibe bei Opernproben unverzichtbar. Den Flügelaltar erklimmen Sänger, auf ihm liegt schlafend Brünnhilde, bevor Siegfried sie aus dem Feuer befreit, aus ihm heraus und von ihm herunter klettert es sich allzu mühsam.
Visuell absurde Wechselbäder, bei denen es nicht nur inhaltlich hakt und knirscht
Akzeptieren soll der Berliner Wagnerianer ein zweites Grundmotiv: die Unmenge zerschlissener Koffer. Sie werden, gleich im "Rheingold", von einer Statistenlawine - Reisende, Flüchtende - über die Bretter gezogen. Koffer, schlampig verteilt oder massig gestapelt, beherrschen dekorativ und düster die Bühne (Stefan Herheim und Silke Bauer). Koffer sind keine "abgegriffene" ästhetische Theatermetapher? Einspruch Herheim! Den Verdacht vergleicht er im Hausgespräch tagespolitisch mit der "Forderung mancher Parlamentarier im heutigen Bundestag, über ein Kapitel deutscher Geschichte endlich hinwegzukommen". Doch so dezidiert politisch will er Wagners Drama auch nicht verstehen, alle Kultur sei ja vielmehr ein "Prozess ständigen Raffinierens", der die Elemente "Resignation, Dekadenz und Perversion" nicht ausschließe.
So musste Stefan Herheims Denk-, Regie- und Bilderkunst 2008 mit dem "Parsifal" zu Bayreuth wagnertauglich werden - in Form einer berauschenden Kolportage zeit- und ideologiekritischer Spekulation zu dem stets als fromm-erhaben gefeierten "Bühnenweihfestspiel", das er radikalprosaisch mit deutscher Politik und Gesellschaft und dem Nazi-Tiefschlag auf dem Grünen Hügel kurzschloss. Manche empfanden die Aufklärung als Beschädigung, Horror.
Tatsächlich beschädigt erschien der Koffer-"Ring" jetzt durchs Corona-Seuchendrama, das der sinnstiftenden Abfolge der vier Musikdramen einen Defekt verpasste. Herbst 2020: die "Walküre", vor einem halben Jahr erst das "Rheingold"-Ursprungspiel der Nixen mit dem reinen Gold in Wassertiefe, jetzt "Siegfried"-Premiere, wohlgemerkt nach dem Weltende der "Götterdämmerung". Und endlich wieder saßen Berlins Wagnerfreunde, geimpft oder genesen mit Lichtbildausweis, mit Masken ohne jeden Abstand, im vollbesetzten Haus.
Das Problem der Herheim-Inszenierung ist keineswegs ihre Absage an die alte Illusionsbühne, der Abstand der Darsteller zu ihrer Rolle, die Brecht-Haltung des 1926 gefundenen "Epischen Theater". Und keinesfalls die vitale Spiellust und vokale Durchschlagskraft der Gesangssolisten und der Chöre. Herheim setzt mit ihnen ganz aufs Spiel, ihre eminente Präsenz. Wotan und Enkel Siegfried, Alberich oder Erda dreschen ins Klavier, blättern in angeblichen Partituren, finden unsinnige Dirigiergesten. Visuell absurde Wechselbäder, bei denen es nicht nur inhaltlich hakt und knirscht . . . Die Koffermigranten des Beginns greifen gar ins Geschehen ein. Herheim weiß, auf G. B. Shaws Ebene von 1898: "Der Ring ein Drama von heute". Wieviel präziser, grotesker, launiger, witziger stieß Frank Castorf in Bayreuth den ganzen "Ring" in die Heute-Stellung!
Was der Regisseur souverän beherrscht: Menschenkonflikte
Das Problem dieser Interpretation ist ihre Bild- und Sinnkonzeption, einschließlich der historisch buntscheckigen Kostüme von Uta Heiseke. Mime, die Judenkarikatur mit Wagner-Mütze und KZ-Kleidung (Ya-Chung Huang), Erda, die dämoniefreie Haus(ur)mutter (Judit Kutasi), Siegfried, der dicklich starke Kindskopf (Clay Hilley), die Gibichungen, Spießer aus den Fünfzigern (Alle Asszonyi, Thomas Lehmann), Hagen, smart-böse (Albert Pesendorfer). Ein Pfund der Waldvogel, lustiger Psycho-Knabe aus Siegfrieds Seelentiefe. Der Statistenhaufen erscheint in Alltagskleidung oder, im "Siegfried"-Finale rasender Paarliebe, zu Massensex-Getue in Unterwäsche. Traute Herheim der internen Wucht von Wagners symphonisch erotischem Erdbeben nicht über den Weg?
Verwandlungszaubereien besorgen weiß wallende Flattertücher, die den höchsten Gefühlen Raum und Licht zuführen. Oder blutrote Farborgien als Surrogate für Fafners Drachentod (Tobias Kehrer). Weniger wäre oft mehr gewesen, wir denken an "Nothingtoseeness" in Berlins Akademie der Künste, die Schau "Leere/Weiß/Stille", die noch bis 12. Dezember zu sehen ist.
Was dieser Regisseur souverän beherrscht: Menschenkonflikte auf der Bühne gezielt, spannend entwickeln. Wenn Waltraude (Okka von der Damerau) und Brünnhilde (Nina Stemme), wenn Alberich (Jordan Shanahan) und der Wotan-Wanderer (Iain Paterson) aufeinanderprallen, fliegen die musikalischen, die vokalen Funken. Dann wieder Ernüchterung: Schleudert Brünnhilde "Jammer! Jammer!" heraus, tiefstes Unglück, kommt von rechts, wie furchtbar!, Loriots Klavier auf die Bühne gefahren.