Süddeutsche Zeitung

Deutsche Literatur:Unter Versehrten

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Über dieses Tempo, diesen Ton kann man nur staunen: In Carmen Buttjers Debütroman "Levi" müssen ein Kind und drei Männer lernen, mit dem Tod zu leben.

Von Frauke Meyer-Gosau

Levi ist elf Jahre alt, und schon sein bisheriges Leben ist nicht ganz in den üblichen Bahnen verlaufen. Geboren in Paris, hat er mit seinen Eltern in Brüssel und London gewohnt, bis sie vor einem knappen Jahr nach Berlin gezogen sind. Seither lagen Mutter und Vater miteinander im Streit - mal drohte sie, ihren Mann aus der Wohnung zu werfen, mal drohte er, sie und das Kind zu verlassen. Aber nun ist sie, eine Pathologin, an ihrem Arbeitsplatz ermordet worden, und wie es scheint, war Levi, unter ihrem Schreibtisch verborgen, dabei, während sie starb. Er hat auch gesehen, wie anschließend die Leiche, an der sie gearbeitet hatte, aus der Pathologie entführt wurde.

Wie soll sein Leben danach weitergehen? Wie soll es weitergehen für ein Kind, das sich eben vor Beginn der Trauerfeier im Krematorium die Urne mit der Asche seiner Mutter schnappt, damit nach Hause rennt und sich auf dem Dach in einem Zelt verschanzt? Eine notdürftige Alarmanlage mit großem Küchenmesser hat er auch installiert, denn wer weiß, wer sich da so alles anschleichen könnte, seinetwegen, aber auch wegen der Urne.

"Levi" ist Carmen Buttjers erster Roman, und man kann tatsächlich nur staunen: über das Tempo. Über den Ton. Über die Einfälle, die da mit einer Selbstverständlichkeit, wie sie nur ein Elfjähriger aufbringen kann, hintereinanderweg übereinanderpurzeln. Denn erst einmal ist Levi, der sich zur Beerdigung seiner Mutter statt eines weißen Hemds ein ausgeblichenes T-Shirt mit dem Queen-Titel "Another one bites the dust" angezogen hatte, der Ich-Erzähler. Er wird es auch im weiteren Verlauf, im Wechsel mit der Stimme eines allwissenden Erzählers, immer wieder über lange Strecken sein: Was Levi sieht und fühlt und denkt und tut, was er fürchtet und wünscht, bestimmt weitgehend das Geschehen.

1977 war sein Vater in einem tschechischen Gefängnis verschwunden

Und das ist natürlich eine einigermaßen riskante Anlage für einen Roman, der für Erwachsene geschrieben wurde: Sentimentalität oder ostentative Abgebrühtheit sind nur zwei der Gefahren, die da am Erzähl-Wegesrand lauern. Doch Carmen Buttjer umschifft sie ziemlich mühelos, und das liegt vor allem daran, dass Figuren und Handlung nah am Realismus gebaut, zugleich jedoch immer ein merkliches Stück vom Möglichen oder Wahrscheinlichen weggerückt sind: eine dunkel fantastische Welt mit harten Wirklichkeitsanteilen.

So gibt es etwa auf der Gegenwartsebene des gesamten Buches keine einzige Frau, die sich Levis annehmen könnte, er ist von Männern umgeben. Sie alle wurden auf unterschiedliche Weise ebenfalls aus ihrer ursprünglichen Lebensbahn geworfen, wie der gebürtige Tscheche Kolja, mittlerweile um die sechzig Jahre alt, der seit einiger Zeit gegenüber von Levis Wohnhaus einen Kiosk betreibt, in dem der Junge manchmal mithilft. Dort in einem Hinterraum entwickelt Kolja alte Fotos, denn eigentlich ist er von Beruf Kriegsfotograf. 1977 war sein Vater in einem tschechischen Gefängnis verschwunden; mit seinen beiden nächsten Menschen, der Journalistin Joan und ihrem Kollegen Tom, war Kolja danach seit dem Bosnienkrieg von einem Kriegsschauplatz zum anderen gezogen. Während er selbst eine schwere Beinverletzung davontrug, kamen Tom und Joan bei beruflichen Einsätzen um. Mit ihnen, den Toten, spricht Kolja, wenn er allein ist.

Der andere seelisch Versehrte, der sich von Zeit zu Zeit ebenfalls ein bisschen um Levi kümmert, ist ein Nachbar, der etwa dreißigjährige Vincent. Dessen Vater hat sich elf Jahre zuvor mit dem Auto von einer Brücke gestürzt, nachdem herausgekommen war, dass er über Jahrzehnte hin insgesamt 10 Millionen Euro veruntreut hatte. Erst die Aussicht auf seinen Selbstmord hatte für kürzeste Zeit einen zugänglichen Menschen aus ihm gemacht: "Er hat nie über etwas anderes geredet als Geld", sagt Vincent. "Außer an dem Tag, an dem er starb. Da saß er mir am Frühstückstisch gegenüber und redete über Quentin Tarantino."

Er selbst sammelt Schallplatten und dealt mit Drogen, auch mit illegalem Glücksspiel kennt er sich aus und erpokert einmal zusammen mit Levi in einer schummrigen Spielhölle eine nette kleine Summe. Einzig über Levis Vater, David, den dritten Mann in seinem Umkreis, wird kaum etwas bekannt. Er ist ein viel beschäftigter Anwalt, hochgewachsen, schwarzhaarig, gut aussehend. Üblicherweise arbeitet er Tag und Nacht, er hat vielleicht ein außereheliches Verhältnis gehabt und fällt jedenfalls auf als einer, der seine allgegenwärtige Wut nur schwer beherrschen kann. Den eigenen Vater hat David nie kennengelernt.

In schnellen Dialogen blitzt inmitten der existentiellen Schwere die Komik auf

Da kommt also auf den 257 Roman-Seiten eine ziemliche Menge an Lebensgepäck zusammen, und mittendrin quirlt ruhelos Levi umher, der, solange seine Mutter lebte, bei ihr in der Pathologie seine Hausaufgaben machte, Zeichentrickfilme oder "Batman" schaute und manchmal noch spät abends, wenn sein Vater wieder einmal nicht nach Hause gekommen war, zu ihr ging, um sich unter ihrem Schreibtisch zusammenzurollen und zu schlafen. Jetzt aber muss er, der sich mal einredet, ein Tiger habe seine Mutter getötet und wolle sich nun auch noch ihrer Urne bemächtigen, und dann wieder fürchtet, sein Vater sei der Mörder, sich weitgehend allein orientieren. Die Männer um ihn herum sind allesamt viel zu sehr Gefangene ihrer eigenen Verlusterfahrungen, als dass sie sich dem verstörten Kind verlässlich zuwenden könnten.

Gäbe es nicht die raschen Szenenwechsel mitsamt Levis immer wieder überschießenden Assoziationen, seinen sprunghaften Aktionen und Ideen, und kämen dazu nicht ein fixer Witz und eine Sprache, die zumeist in poetischer Knappheit die desolaten Verhältnisse, in schnellen Dialogen aber auch eine plötzlich aufblitzende Komik erfasst, dies alles wäre in seiner existenziellen Schwere wohl nicht gut auszuhalten. So aber entsteht in "Levi" ein sehr spezifisches Menschen-Panorama aus dem gegenwärtigen Berlin, in dem jeder - vom Kind über den erfolgreichen Anwalt bis zum Migranten - zwar an traumatischen Erfahrungen weit mehr zu bewältigen hat, als er eigentlich verarbeiten kann. In dem es aber immerhin Geschichten und Sätze gibt, die für den Moment alle Schwärze aufheben, die trösten können: "... als gäbe es nicht nur zwischen uns, sondern auch zwischen allen anderen einen Satz, der gesagt werden musste, damit es weitergehen konnte". Dies ist nicht nur Levis kindlicher Wunsch und Wunderglaube. Es ist auch exakt das, was Carmen Buttjers so besonderem Roman selbst gelingt.

Carmen Buttjer: Levi. Roman. Galiani Berlin Verlag, Berlin 2019. 257 Seiten, 20 Euro.

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Quelle:
SZ vom 02.09.2019
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