Deutsche Literatur:Unheilige Epiphanien

"Der Stimmungsumschwung ins Profane ist schockierend und gleichzeitig ziemlich geil, denkt Kassandra": Wie man die religiösen und die trivialen Erlebnisse einer Pilgerfahrt mit Ironie übersteht, zeigt Sophie von Maltzahns zweiter Roman "Liebe in Lourdes".

Von Nicolas Freund

Kassandra ist dann mal weg. Die 39 Jahre alte Berlinerin hat keine Kinder, aber diverse Männergeschichten, Tinder-Dates und eine Scheidung hinter sich - irgendwie scheint da jetzt der Zeitpunkt für eine Pilgerreise gekommen zu sein. Der Jakobsweg ist Kassandra wahrscheinlich etwas zu öko und peinlich, deshalb schließt sie sich einer Gruppe an, die mit behinderten Kindern nach Lourdes fährt, wo einst eine Marienerscheinung der vierzehnjährigen Bernadette Soubirous den Weg zu einer Quelle wies, deren Wasser Wunderheilungskräfte nachgesagt werden.

Wenn schon pilgern, dann richtig. Ein Abenteuer, aber für einen guten Zweck, wenn man so will, und mit den körperlich und geistig behinderten Kindern gibt es für jeden Gläubigen auch gleich noch eine kleine Prüfung Gottes dazu. Pilgern all inclusive. Denn trotz sinkender Mitgliedszahlen der Kirchen und eines Missbrauchsskandals nach dem anderen sind Pilgerreisen nach wie vor relativ unverdächtig. Vielleicht, weil es da um Selbstfindung unter der Obhut einer größeren Wahrheit geht, und dagegen wird wohl kaum jemand etwas einzuwenden haben. Pilgern als moralisch einwandfreie Selbstoptimierung etwas älterer Millennials, die sonst mit Religion nur an Weihnachten und Ostern in Kontakt kommen?

Sophie von Maltzahn

Die Autorin Sophie von Maltzahn.

(Foto: Carolin Saage)

Das ist ein zentrales Thema in Sophie von Maltzahns zweitem Roman "Liebe in Lourdes". Worum es sonst noch geht, ist eine Glaubensfrage. Weite Teile des Romans sind so etwas wie eine fiktionalisierte Reportage. Maltzahn ist selbst schon acht Mal nach Lourdes gepilgert und hat manche der von ihr beschriebenen Szenen, besonders die Zusammenarbeit mit den Kindern, selbst erlebt, wie sie in einem Interview verriet: die Organisation des Pilgerzuges, Details der Ordenstracht und wie es ist, 30 Stunden in einem Zug voller pflegebedürftiger Kinder und spirituell bedürftiger Erwachsener durchs hochsommerliche Frankreich zu tuckern. Zivildienst trifft auf Klassenfahrt und Kirchentag.

Wie anziehend wirkt diese Schwesterntrachten eigentlich genau auf Männer?

Kassandra empfindet die Arbeit mit den Kindern als äußerst erbaulich und alle Männer, die ihre Schutzbefohlenen füttern und mit ihnen spielen, findet sie extrem attraktiv. Sie trifft Menschen, die Dinge sagen wie: "Der Prälat sucht den Erbprinzen." Unbedingt will sie wissen, was das für Leute sind, die hierherpilgern, wie anziehend diese Schwesterntrachten eigentlich genau auf Männer wirken und, zentrale Frage, ob man in Lourdes eigentlich Sex haben kann. Bei dem ganzen Unterfangen geht es um eine Herausforderung des Heiligen. "Nun reiht sich ein von weißen Neonlampen erhellter Shop neben dem anderen: blinkende Kreuze, Marias in allen Größen, Armbänder, Rosenkränze, versprochene Gnade auf kitschigen Ikonendrucken, Pizza- und Burgerwerbung aus bunten Röhren, ein 24/6 Supermarkt. Der Stimmungsumschwung ins Profane ist schockierend und gleichzeitig ziemlich geil, denkt Kassandra."

In Lourdes, wie es in dem Roman beschrieben wird, vermischen sich Glaube, Liebe, Sex, Familienwünsche, Fürsorge, Rausch und eine mediterrane Urlaubsatmosphäre. Sehnsüchte werden hier nicht unbedingt ausgelebt, aber vielen der Pilger scheinen sie in dem Wallfahrtsort doch in greifbare Nähe gerückt zu sein.

Weil Heiligenerscheinungen und Flirts auf Pilgerfahrt nicht richtig zusammengehen, driftet auch der Text etwas auseinander, indem er sich mit Fußnoten selbst kommentiert. So findet eine strenge Pilgerin, Benedikta, Sex vor der Ehe ginge nur in wenigen Ausnahmefällen. "Aber nicht, wenn eine jedes Wochenende 'nen anderen Typen abschleppt." Fußnote: "Epiphanie der Eva." Man muss davon ausgehen, dass Kassandra solche Wochenenden hinter sich hat. Ob die biblische Eva das nicht auch gewollt hätte, statt nur mit dem ollen Adam abzuhängen? Es wirkt, als wolle der Text mit diesen Andeutungen noch einmal deutlich ironische Distanz zu sich selbst aufbauen. Weil der Umschwung ins Profane so geil ist. Nur vollzieht den gerade Kassandra nicht. Für sie ist der ganze Ausflug eine irgendwie bewegende, aber nie spirituelle Veranstaltung. Sie findet eine kleine Erfüllung in der Pflege der Kinder, sagt zu netten Männern nicht Nein, nimmt aber ansonsten an der Veranstaltung so ironisch teil wie Berliner Hipster, die angesoffen ein Trabrennen besuchen.

Kassandra scheint überzeugt zu sein, dass es zu jedem religiösen Erlebnis von der Ekstase bis zur Beichte eine weltliche Entsprechung gibt. Lourdes unterscheidet sich von einem freiwilligen sozialen Jahr und dem Besuch eines Technofestivals auf MDMA eigentlich nur dadurch, dass dort für sie beides zusammenkommt. Wie das sein kann und warum das eine solche Anziehungskraft ausübt, deutet der Roman nur an, indem er die Ironie und die Betonung des Kontrasts zum Profanen mit der Faszination für die Regeln und Rituale der Veranstaltung zusammenstellt. Richtig greift beides aber nicht ineinander. Möglicherweise soll dieser Roman damit subversiv sein. Dann untergräbt er sich aber auch selbst.

Sophie von Maltzahn: Liebe in Lourdes. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 224 Seiten, 20 Euro.

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