Süddeutsche Zeitung

Deutsche Literatur:Sommer im Mohnfeld

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Große Ferien in der Gegenwart des Bösen: Mirko Bonné zeichnet ein Bild der Insel Fehmarn.

Von Till Briegleb

Bei diesem Titel erwartet man eigentlich Postkartenbücher oder Aquarellsammlungen mit Mohnwiesen und Schiffchen, aber keine Geschichten von Reinhard Heydrichs Witwe und Jimi Hendrix' letztem Konzert. "Mein Fehmarn", der neue Roman von Mirko Bonné, steckt sogar in einem Umschlag mit hingetuschtem Klatschmohn und erzählt von Segelbooten. Trotzdem ist diese Liebeserklärung an die Ostseeinsel mit ihrer Fährverbindung nach Dänemark kein sentimentales Lob oder ein Schlüsselloch auf die Ereignislosigkeit eines Strandidylls. Fehmarn taugt - wie vermutlich jeder größere Fleck in diesem Land - für eine Archäologie des Deutschseins, und Mirko Bonné ist gut im Freilegen, wenn auch eher mit dem Pinsel, denn mit dem Spaten.

Seine Hauptfigur Marko, die man als nur zart verschleierte Variante des autobiografischen Ichs lesen muss, wird im Jahr 1975 als Kind eher zufällig aus dem Voralpenland auf die Ferieninsel gefahren, auf dem Rücksitz des elterlichen Autos. Hier findet er in der jährlichen Wiederholung des Küstenurlaubs jene Erfüllung und Erlebnisintensität, die so vielen Kindern den Ort der Sommerferien zu einer Art verlobter Heimat machen. Die erste scheue Liebe, die ersten Abenteuer und Unfälle, die Expeditionen ins Unbekannte und die Vertrauensbeweise des Bauern für den Knaben, der nachts mit dem Trecker das Feld bestellen darf - das sind Erschütterungen des schüchternen Weltbilds, die einen Ort so mit Erinnerungen aufladen können, dass er für das weitere Leben Teil der Sehnsucht bleibt.

Bonné benennt den Zeitpunkt, als der Zehnjährige sein erstes Rendezvous mit Fehmarn hat, gleich auf Seite eins als "das Jahr, in dem alles anders wurde". Und dann streicht er mit dem Blick des sensiblen Kindes über die Eindrücke der nächsten Jahre, die erklären, warum er diese Insel "lieb gewann". Es ist die Landschaft aus Rapsfeldern und Höfen, die Füchse und Krebse, die Straßen ohne Autos und das Spielen, bis es dunkel wird, es sind die Leuchttürme und die Nachtkutter beim Fischfang, aber auch der Mähdrescher in der Scheune, das "Ungetüm", und sein Bändiger, der nordwirsche Bauer Richardsen. Alles große Zeichen für eine starke Aufgehobenheit in der Welt.

Die Inselpension ist bei alten Nazis besonders beliebt gewesen

Solch prägende Eindrücke von Sommerferien, wie sie Kinder jener Zeit, als noch nicht nach Phuket und Hurghada gereist wurde, intensiv an einem Ort erlebten, beschreibt Mirko Bonné als Lehren des Erwachsenwerdens. Manchmal ein bisschen altklug für das Kind eines bayrischen Brotwagenfahrers, aber immer getrieben von größter Empfänglichkeit für Atmosphären, malt Bonné die Stadien seiner Reife parallel zur Veränderung auf Fehmarn. Jeder Sommer stellt Fragen an den Inselliebhaber, an deren Beantwortung sein Urteilsvermögen wächst: von der kindlichen Überlegung, warum es überhaupt Blumen auf der Welt gibt, bis zur späten Verwirrung darüber, dass die Orte der Kindheitsferien noch immer die Gefühle aufwühlen.

Es sind aber nicht nur diese empfindungsstarken Genrebilder aus dem Goldenen Zeitalter der BRD, als der Zuwachs an Wohlstand und Freiheit noch individuell als aufregend empfunden werden konnte, die "Mein Fehmarn" zu einer facettenreichen Lektüre machen. Die Geborgenheit der ländlichen Freude entschädigt den jungen Marko tatsächlich für die anstrengende Ehe der Eltern und den lieblosen Vater. Die Insel-Odyssee zum Verstehen, die Bonnés Alter Ego durchlebt, ist deshalb auch eine Suche nach der Antwort, warum Menschen so unterschiedlich sind.

Damit eröffnet Bonné das Tor zu den historischen Schichten. Er erzählt von dem Befremden, als Lina Heydrich Marko in ihrer gut von alten Nazis besuchten Inselpension zur Totenbüste ihres Mannes führt, dekoriert mit SS-Runen und Hakenkreuz, und dem Jungen erklärt: "Schau gut hin." Er berichtet von den regelmäßigen Surf-Ferien des NSU-Trios Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe auf dem Fehmarner Campingplatz, der nur ein Stück weg von Lina Heydrichs Kriegsverbrecher-Pension lag. Und er protokolliert seine Gesprächen mit unwissenden Ortsbeamten über die NS-Zeit, als Himmler hier Ehrenbürger war, dessen Eintrag im Goldenen Buch aber säuberlich herausgetrennt wurde.

Als Kontrast zu dieser befremdlichen Anwesenheit des Bösen auf seiner schönen Insel, die Bonné mit dezidierten, aber trotzdem leisen Tönen wachruft, stellt er den 28-jährigen Ernst Ludwig Kirchner, der 1908 von den Farben und der ruralen Architektur der Insel so beeindruckt war, dass er zweimal wiederkehrte und hier berühmte Bilder wie "Gut Staberhof" malte. Oder auch Jimi Hendrix, wie er auf dem letzten Konzert vor seinem Tod 1970 beim Fehmarn-Festival verlangte, alle Zelte vor der Bühne abzubauen, weil sie ihn an seine Armeezeit erinnerten. Diese Ereignisse haben so intensiv mit dem Empfinden Markos zu tun, dass "Mein Fehmarn" über 160 Seiten die zauberhafte Verwandlung gelingt, die Insel als Persönlichkeit zum Leben zu erwecken: als einen gütigen Lehrmeister des Sehens und Empfindens. Und als Welt in einer Nussschale. Durch Mirko Bonnés Blick findet sich auf diesem Erdfleck, der bei der Zuganfahrt nach Puttgarden eher unspektakulär erscheint, das ganze Drama der menschlichen Existenz. Da es Bonné vermutlich trotzdem um den Sieg der Schönheit ging, ist es im Ton dann doch ein Aquarell geworden. Aber ein Aquarell mit großer Tiefe.

Mirko Bonné: Mein Fehmarn. Mare Verlag Hamburg, 2017; 160 S.; 18 Euro

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SZ vom 10.05.2017
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