Deutsche Literatur:Im Steinbruch

Deutsche Literatur: Christian Enzensberger - Ins Freie. Ein Erinnerungsbuch. Herausgegeben von Wolfgang Gretscher und Christiane Wyrwa. Scaneg Verlag, München 2016. 192 Seiten, 28 Euro.

Christian Enzensberger - Ins Freie. Ein Erinnerungsbuch. Herausgegeben von Wolfgang Gretscher und Christiane Wyrwa. Scaneg Verlag, München 2016. 192 Seiten, 28 Euro.

Freunde, Weggefährten und seine Brüder erinnern an den 2009 gestorbenen Autor Christian Enzensberger. Und er selber kommt auch zu Wort.

Von Lothar Müller

Im Januar 2009 starb der Schriftsteller Christian Enzensberger. Es erschienen nach seinem Tod noch zwei Bücher unter seinem Namen. Das eine, "Eins nach dem anderen" (2010), war schmal und trug den Untertitel "Gedichte in Prosa". Das andere, über 500 Seiten stark, hieß "Nicht eins und doch. Geschichte der Natur" (2013). An diesem Buch hatte der Autor mehr als zwanzig Jahre lang gearbeitet. Was davon erschien, war nur ein Bruchteil des hinterlassenen Manuskriptberges.

Er dürfte so groß geworden sein, weil der Autor auf die ältere "Naturgeschichte" zurückging, auf ihre Kunst der genauen Beschreibung ebenso wie auf ihre Lehre von den "drei Reichen der Natur": Tiere, Pflanzen, Steine. Das war noch für Lessing eine absteigende Linie gewesen. Bei den Romantikern, aber auch bei Goethe gewannen die Steine mehr und mehr an Glanz. Sie rückten an Schrift und Sprache heran, spielten Hauptrollen im frühromantischen Reflexionstheater.

Wie wunderbar ist es, wenn man sich verrennt

Christian Enzensberger hatten es die Steine angetan, er war aber in alle drei Reiche der Natur zugleich aufgebrochen, und als sein Verleger Michael Krüger ihn fragte, ob er nicht Angst habe, sich dabei zu verrennen, gab er zur Antwort, "dass es wunderbar wäre, sich zu verrennen". Man kann diese Antwort nun in dem Erinnerungsbuch "Ins Freie" nachlesen, das Äußerungen von Weggefährten und Freunden mit Auszügen aus Enzensbergers Werk, Fotografien, einem Briefwechsel mit dem Autor Kuno Raeber und Interpretationen zu Büchern wie "Größerer Versuch über den Schmutz" (1968) und dem Roman "Was ist was" (1987) mischt.

Hans Magnus Enzensberger, zwei Jahre älter sein Bruder, beschreibt nun, wie er den Nachlass-"Misthaufen" gesichtet und ins Deutsche Literaturarchiv nach Marbach gegeben hat. Und sagt: "Der Grübler war er, ich dagegen mehr der Homme de Lettres." Ulrich Enzensberger, der deutlich jüngere Bruder, hat ein close reading "Über eine haarige Stelle in ,Nicht eins und doch'" beigesteuert. Christian Enzensberger war Prosaautor, Übersetzer und Literaturwissenschaftler, der freilich an der Universität München nur ein Gastspiel gab, das er selbst beendete. Viele Leser kennen seine Übersetzungen von "Alice's Adventures in Wonderland" und "Through the Looking Glass". Der Anglist Werner von Koppenfels schildert das Übersetzerseminar, das Enzensberger ins Leben rief, die Reaktion der Kollegen auf seinen Theorieentwurf "Literatur und Interesse".

Dieses albumhafte Erinnerungsbuch ist geeignet, neues Interesse an Werk und Person eines Autors zu wecken, der ein sehr eigenes Projekt verfolgte: die Naturgeschichte und die Geschichte des Ich, nicht zuletzt des eigenen, ineinander zu spiegeln.

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