Süddeutsche Zeitung

Deutsche Literatur:Ein verhinderter Liebhaber

Manische Reim-Rappeligkeit außer Rand und Band: In Peter Wawerzineks Roman "Liebestölpel" wird es immer noch ein bisschen schräger.

Von Frauke Meyer-Gosau

Warum eigentlich nicht? Warum sollte ein Schriftsteller seine eigene Lebensgeschichte nicht alle paar Jahre neu erzählen, mit jeweils anderem Schwerpunkt? Allerdings muss das biografische Material den multiplen Anhieb auch hergeben - "Mein Leben als Autoverkäufer in Bad Tölz", gefolgt von Band zwei in Wanne-Eickel und Nummer drei in Travemünde wäre da vermutlich nicht so ergiebig.

Erzählerische Ödnis aber ist das Problem des 1954 in Rostock geborenen Peter Wawerzinek, buntes und umtriebiges Gewächs der einstigen Literaturszene am Prenzlauer Berg und spätestens seit seinem Erfolg mit dem Roman "Rabenliebe" (2010) eine feste Größe im deutschen Literaturbetrieb, bisher nicht gewesen. Auf "Rabenliebe", die autobiografische Geschichte des von seiner Mutter verstoßenen Kindes und seiner zerstörerischen Heim- und Adoptionskarriere, folgte vier Jahre später "Schluckspecht", Wawerzineks Trinker-Biografie. Und nun kommt "Liebestölpel", nach Rabe und Specht der dritte titelgebende Vogel, der auch gleich signalisiert, worum es hier gehen soll: der Autor als komisch unbeholfener Liebender.

Mit der rasenden Fahrt des Dreijährigen auf seinem Dreirad durch den Wald nimmt alles seinen Anfang. Sie gilt einem "wilden Mädchen mit der klobigen Brille, ein Brillenglas von innen her mit Heftpflaster zugeklebt", ihr Name ist Lucretia. Beide, der kleine Verfolger und sie, sind Insassen desselben Kinderheims: "Lucretia und ich sind angeschossene Kinder mit Bleikugeln, die sich in unsere Herzhäute eingewachsen und eingerichtet haben. Wer auf uns angelegt hat, die genauen Hintergründe dieser Verbrechen, das wird niemals aufgeklärt, geblieben allein mein schriftstellerisches Bemühen all die Jahrzehnte lang, in diese Urzustände hineinzugeraten, von denen her all unsere bitteren Belange stammen." Der kleine Peter, von Lucretia "Petkowitsch" genannt, wird in Sachen Liebe "ewig der kleine Junge auf dem Kinderdreirad" bleiben, unablässig auf der Suche nach seiner Lucretia. Taucht sie wieder auf, wird er immer wieder versuchen, sie zu halten. Anders gesagt: Dieses Kind wird größer, aber es entwickelt sich nicht - jedenfalls nicht, was die Fähigkeit anlangt, ein liebevolles und verantwortliches Leben mit einem anderen Menschen, womöglich mit einer eigenen Familie zu führen.

Es wird viel gereist, nach Budapest und Venedig, nach Mallorca, Kuba oder Stromboli

Was aber, glaubt man dem Ich-Erzähler, nicht an ihm liegt, sondern eben an Lucretia, der großen Zerstörerin. Wann immer er eine Beziehung eingeht, die glücken könnte, "taucht (sie) absichtlich auf, um meine Pläne zu durchkreuzen. Sie weiß, dass ich ihr hilflos verfalle, wenn sie es will". Doch das will sie nur dann, wenn es um sein Glück geht. Lucretia ist eine "Lulu"-Figur mit rasantem Männer-Verbrauch, auftretend in immer neuen Erscheinungsformen, mit einer Zerstörungslust, die nur einem gilt: Petkowitsch. "Sie erobert mich mit den einfachsten Mitteln", klagt er. "Ich bin für sie durchsichtig. Sie kann mich allzeit einplanen, in Besitz nehmen, mir den Platz zuweisen, der von mir eingenommen wird. Ich unterliege ihrem Charme." Und als beide schließlich auf Lucretias Initiative hin den Versuch unternehmen zusammenzuleben, wirft sie nach elf Tagen sein neues Manuskript aus dem Fenster, die Blätter segeln hinunter, einige bleiben unauffindbar. Ein gemeinsames Leben kommt also auch nicht infrage, ein gemeinsames Kind allerdings schon.

So geht das hin mit den Frauen. Mit "Eris", deren Name nicht von ungefähr "Streit" bedeutet und mit der Petkowitsch drei Kinder hat, später dann mit "Epona", benannt nach der keltischen Göttin der Fruchtbarkeit. Sie hat schon zwei Kinder aus einer ersten Ehe, würde gern auch noch Petkowitschs und Lucretias Tochter mit aufnehmen, fast leben sie schon alle zusammen an der Ostsee - da taucht Lucretia auf, und alles ist wieder kaputt. Wie soll so etwas enden? Der Ich-Erzähler hat es in der Mitte des Buches angesagt: "Wir stammen aus einer verlorenen Zeit, sind in einer einsamen Gegend groß geworden. Das verbindet uns, bis dass der Tod entscheidet, wer zuerst geht." So wird es kommen. Und die Entscheidung wird, wie immer, von Lucretia ausgehen.

Eingebettet sind Petkowitschs Frauen-Geschichten in die aus Wawerzineks früheren Büchern geläufigen Zusammenhänge: in die DDR-Provinz an der Ostsee und in Plauen, dann geht es nach Berlin, Hauptstadt der DDR, "die Gegend ist verfallen, brüchig und bröcklig wie alles in Berlin damals. Gesperrte Balkone, Einschusslöcher". Und während der Staat seinem Ende entgegenrottet, wird aus dem Ich-Erzähler erst ein unfähiger, zunehmend unwilliger Familienvater, dann ein einzelgängerischer Wohnungsbesetzer und allmählich ein Künstler. Kuriose Ereignisse begeben sich allenthalben, und als die Mauer fällt und er mit seinen Kumpels vom frisch ergatterten Begrüßungsgeld in der Potsdamer Straße eine wohlmeinende Rentnerin zu alkoholischen Getränken einlädt, wird es gleich noch mal ein bisschen schräger. Ansonsten wird viel gereist, nach Budapest und Venedig, nach Mallorca, Kuba oder Stromboli, gegessen und getrunken wird natürlich auch kräftig, und so kommt man sich auf die Dauer vor wie bei einer Diashow oder einem Videoabend: alles so schön bunt hier. Allerdings mit einem zunehmend düsteren Grundton, denn es ist ja die Lucretia-Geschichte, die währenddessen auf ihr Ende zusteuert.

Mit zweien seiner zentralen Figuren verlässt Wawerzinek in "Liebestölpel" den Boden des skurrilen Realismus, auf dem seine Texte sonst zu Hause sind: zum einen mit "Opa", der dem Ich-Erzähler mal idealtypisch lenkender und alles verzeihender Vater, mal auch nährende Mutter ist und dem er angeblich seine charakteristische Wawerzinek-Sprache verdankt, die hier in ihrer manischen Reim-Rappeligkeit mitunter außer Rand und Band gerät. Zum anderen aber mit Lucretia, die sich konträr zu ihrem römischen Namensvorbild verhält und eben nicht die tugendhafte Gattin ist, die sich nach ihrer Entehrung selbst entleibt, sondern die männerfressende Mega-Überfrau, mit "Peter-Pan-Nase" und doch atemberaubend attraktiv, mal Boxerin, dann "Hippiegirl" oder Französisch parlierende Diva mit Riesensonnenbrille (alle Fremdsprachen fliegen ihr zu, Geld offenbar auch). Mit ihnen schafft Wawerzinek zwei Wunschfiguren von archetypischer Substanz, und das tut dem Roman auf die Dauer nicht gut. In all dem witzigen und zeitweilig auch traurigen Gewusel bricht sich an diesen beiden Monolithen immer wieder der Erzählstrom: Nicht nur entwickeln sie selbst sich nicht, sie lassen auch bei ihrem Gegenüber keine Entwicklung zu, allenfalls einen Aufprall.

Sodass also von einer ulkigen Tölpelhaftigkeit seitens des verhinderten Liebhabers Petkowitsch in Wahrheit gar nicht die Rede sein kann, vielmehr herrscht eine auf die Dauer auch den Leser quälende emotionale Abhängigkeit und die damit verbundene beklemmende Lust an der Selbstdestruktion. Auch das Ende fällt hilflos aus: "Schmetterling sprich, was fliehest du mich, warum so eilig, von jetzt fern und eben noch ganz nah? (...) Oh, bleib bei mir alle Zeit, als wäre ich ein Blümchen, komm zu mir geflogen, setze dich nieder, sei gut zu mir." Nicht die autobiografische Wiederholung, die Bindung an den Gehalt der eigenen Lebensgeschichte zeigt sich hier also schließlich als Grundproblem, sondern die Vermeidung der Konfrontation mit der eigenen, aktiven Rolle des Ich-Erzählers - die Blockierung der eigenen Verantwortlichkeit. Traurig zu sehen, wie darüber dann auch Sprache und Bilder schlappmachen.

Peter Wawerzinek: Liebestölpel. Roman. Galiani Verlag, Berlin 2019. 300 Seiten, 20 Euro.

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SZ vom 07.01.2020
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