Süddeutsche Zeitung

Deutsche Literatur:Die Falle Hoffnung

15 000 Briefe enthält der Nachlass von Christa Wolf. Jetzt gibt es eine klug komponierte, beeindruckende Auswahl, mit Briefen von 1952 bis zum Todesjahr 2011. Er gibt neue Einblicke in die intellektuelle und politische Biografie der Autorin.

Von Jörg Magenau

Auf der einen Seite ist die Hoffnung. Auf der anderen ist der Schmerz. Und je größer der Schmerz sei, desto größer müsse die Hoffnung dann doch noch gewesen sein, auch wenn es so aussah, als wäre sie längst erloschen. So schreibt Christa Wolf zu Ostern 1977 an ihre Freundin Maxie Wander. Das war vier Monate nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann, mit der sich die Lage für die Künstler in der DDR endgültig verfinsterte. Dabei hatte sie geglaubt, schon nach dem berüchtigten 11. Plenum der SED im Dezember 1965 die letzten an die Partei geknüpften Hoffnungsreste verloren zu haben, damals, als sie so mutig wie vergeblich opponierte. Oder allerspätestens während der zähen Auseinandersetzung um die Veröffentlichung von "Nachdenken über Christa T.". Doch sie litt immer weiter als Sozialistin in der DDR, bis zur Wende 1989 und darüber hinaus. Noch 2001 erinnerte sie sich in einem Brief an den Regisseur Adolf Dresen an diese Schmerzen. "Wie weh das tat, darüber macht sich kein anderer eine Vorstellung, und wir halten natürlich den Mund: Das wirkt ja heute nur noch lächerlich."

Zu Beginn schrieb sie als junge, altkluge Literaturkritikerin

Man kann ihre Hoffnungshartnäckigkeit naiv finden oder allzu anhänglich an eine Jahrhundertillusion, schließlich dichtete der Freund Volker Braun nach dem Ende des sozialistischen Experiments: "Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle." Christa Wolf hing in dieser Falle fest. Aber welche Stärke entfaltete sie darin, den Bewegungsspielraum zu erweitern! Welche Aufrichtigkeit demonstrierte sie im Bemühen um eine bessere Welt! Und wie viel Zuwendungsstärke brachte sie ihren Mitmenschen gegenüber auf. "Erst mal leben ist eigentlich ganz schön", schrieb sie im Sommer 1988 an Volker Braun, als sie gerade eine lebensbedrohliche Krankheit überstanden hatte - eine Erfahrung, aus der später die Erzählung "Leibhaftig" hervorging.

Psychosomatische Reaktionen auf die Zumutungen der Weltgeschichte waren bei ihr keine Seltenheit. Dass sie auch zwei Mal wegen Depressionen klinisch behandelt wurde, ist weniger bekannt - das erste Mal 1967, wie sie gegenüber den Freunden Anna und Friedrich Schlotterbeck andeutete. Da schrieb sie aus der Berliner Charité: "Sagt anderen Leuten nicht, wo ich bin, für die Öffentlichkeit hab ich Kreislaufstörungen." Der Titel des Bandes, der ausgewählte Briefe aus dem Nachlass versammelt, führt deshalb ein wenig in die Irre, denn auch wenn Christa Wolf den Satz "Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten" 1977 geschrieben hat - bequem stand sie wahrlich nicht zwischen den Fronten, sondern immer als Schmerzensfrau.

Rund 15 000 Briefe enthält der Nachlass im Archiv der Berliner Akademie der Künste, von denen nun 483 vorliegen. Es handelt sich also um eine kleine Auswahl, doch die Herausgeberin Sabine Wolf - mit Christa Wolf weder verwandt noch verschwägert - zeigt in diesem klug komponierten Band die ganze Vielfalt der Adressaten und der Schreibweisen. Weil die Briefwechsel mit Brigitte Reimann, Anna Seghers, Franz Fühmann, Maxie Wander und Charlotte Wolf bereits einzeln publiziert worden sind, kommen sie hier nur sparsam vor. Nun sind andere die festen Bezugsgrößen über längere Perioden hinweg: Lew Kopelew, der immer wieder zu politischen und poetologischen Selbstbestimmungen herausfordert, Max Frisch und später Günter Grass als nahestehende Kollegen im Westen oder - bis zum Bruch nach der Wende - Sarah Kirsch, von der Christa Wolf zu erstaunlich verspielten, märchenhaften Erzählungen angeregt wird.

Es gibt sorgenvolle Briefe an Nachbarn, freundlich bestimmte an Leserinnen und Leser, mütterliche an die Kinder, liebevolle an den Ehemann Gerhard Wolf, an Freunde und Familie, mutige an Genossinnen und Genossen bis hinauf zu Erich Honecker, an den zu schreiben sie nicht zögerte, wenn es darum ging, Hilfe für in Bedrängnis geratene Kollegen zu erbitten. Für alle Empfänger fand Christa Wolf einen eigenen Ton und eine stets aufrichtige Hinwendung. Das ist das Beeindruckende an diesen Briefen. Sie lassen einen Menschen lebendig werden, der seine gesellschaftliche Verantwortung ernst nimmt und den Empfängern nie nach dem Mund redet. Wenn sie gegenüber Kollegen - sei es Erwin Strittmatter oder Erich Loest - über deren neue Bücher spricht, scheut sie vor kritischen Bemerkungen nicht zurück.

Die Briefe reichen von 1952 bis ins Todesjahr 2011, anders gesagt, von der jungen, altklugen Literaturkritikerin, die sich an den Postulaten des sozialistischen Realismus orientiert, über die angehende, schon nicht mehr ganz so selbstgewisse Autorin hin zur zunehmend konfliktreich agierenden sozialistisch-humanistischen Intellektuellen in einem degenerierten sozialistischen Staat und schließlich zu einer zwar desillusionierten, aber weiterhin engagierten Bürgerin des wiedervereinigten Deutschland. Dass sie für eine Genossin vielleicht zu bürgerlich, für eine Bürgerin zu sozialistisch war, macht die besondere Spannung aus, die in den Briefen spürbar wird. Ohne diese Spannung hätte sie nicht schreiben können. Das war ihr durchaus klar, und sie erwähnt es immer wieder.

Christa Wolf wurde erst von Mitte der Sechzigerjahre an, als die Differenzen mit der Partei nicht zu übersehen waren, tatsächlich "Christa Wolf". Sie hat sich nicht danach gedrängt, aber der Konflikt der idealistisch gestimmten Sozialistin, die an ihren Idealen zweifelte und an der Wirklichkeit verzweifelte, trieb nun ihr Schreiben an, und es ist kein Zufall, dass die Briefdichte von den Siebzigern bis in die Neunzigerjahre am größten ist. Doch schon um 1955 schickte sie dem Schriftsteller und väterlichen Protegé Louis Fürnberg den Stoßseufzer: "Himmelherrgottsakra, Eure ganze 'ideologische Klarheit' hilft Euch nischt, wenn Ihr kein Talent habt!"

Damit begann das Ringen um eine eigene Haltung und Ästhetik, um das, was Christa Wolf später das "Unsagbare" nannte, das sie jenseits der Grenzen des bloß Richtigen und politisch Opportunen erreichen wollte. Dass dieses "Unsagbare" manchmal einfach bloß dem Umstand geschuldet war, mit Lesern bei der Stasi rechnen zu müssen, und es deshalb besser war, manches nur verklausuliert anzusprechen, ist eine andere Pointe dieses in vielen Nuancen schillernden Briefwerks. Besonders deutlich wird die Vorsicht in Briefen an die tschechische Freundin Františka Faktorová rund um das Jahr 1968 und den Prager Frühling.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Ob "Utopie", "Hoffnung" oder pragmatische "Alternative" - ohne den Pol des Anderen, der Wandlung, der Verbesserung hätte sie nicht leben wollen, auch wenn sie die Frage stellt, "wo da der Fortschritt läuft von den Scheiterhaufen des Mittelalters zu den Öfen von Auschwitz". Sie hätte stattdessen auch den stalinistischen Gulag einsetzen können. Weit entfernt sei sie von einem "räsonierenden, nörgelnden Geschichtsverständnis", schrieb sie 1973 an Lew Kopelew. "Nur beschäftigt mich unausgesetzt die Frage der Alternativen. Und auch das - dass man nur auf eine Alternative hin glaubt schreiben zu können - zeigt ja, wie man an der These hängt, dass Literatur gleich und möglichst noch politisch wirksam werden könnte." Knapp dreißig Jahre später: "Warum ging ich nicht weg? Weil ich in der Bundesrepublik nie den Hauch einer utopischen Gesellschaftsentwicklung gesehen habe. Die Art Langeweile konnte ich auch zu Hause haben."

Erlebbar wird in den Briefen auch der Bruch, den das Jahr 1989 bedeutete. Denn auch da noch gab es, wie sich zeigte, einen schmerzenden Hoffnungsrest. Entscheidend aber war etwas anderes: der radikale Wandel der Öffentlichkeit und der Bedeutung der Intellektuellen. Im Sozialismus erfuhr Christa Wolf die unmittelbare Wirksamkeit von Literatur und politischem Engagement. Das Wort wurde ernst genommen - das immerhin leisteten die Machthaber, auch wenn die Funktionäre von Kunst keine Ahnung hatten. Trotzdem gab es auch mit ihnen eine Gemeinschaft im Dienste der Verbesserbarkeit der (sozialistischen) Welt. Christa Wolf akzeptierte sie als Gesprächspartner, und sie hatte mit ihren Invektiven gegenüber Erich Honecker und anderen ja auch durchaus Erfolg.

Kam es bis dahin gut sozialistisch auf Standpunkt und Perspektive an, so wurden die östlichen Intellektuellen nach der Wende zurückgestuft auf bessere Bürger, die vielleicht noch eine Meinung äußern konnten oder für eine besondere Haltung standen. Aber was ist schon eine Meinung. Das Starkmachen des eigenen Alltags und der eigenen Subjektivität, mit der Christa Wolf in der DDR durchaus widerständig wirkte, war plötzlich nur noch bieder und brav. "Unsere" Christa hieß es dann abschätzig oder, brutaler und völlig daneben, die "Staatsdichterin".

"Ich habe mich nie beklagt, nichts bedauert oder gar bereut."

Das öffentliche Getöse der Christa Wolf-Debatten findet in den Briefen nur einen schwachen Widerhall. Umso mehr die neuen und die alten Freundschaften. Ein gewisses Ressentiment gegenüber "dem Westen" ist durchaus verständlich. Die Intellektuellen im Osten haben zumindest die Erfahrung des Scheiterns voraus, und Christa Wolf wehrte sich dagegen, dass "die im Westen" sich "für das Urbild des Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts" halten. Dagegen setzte sie ihre Erfahrungen und die Geschichte der DDR. Aber auch dann noch galt, was sie schon im April 1977 an Maxie Wander schrieb: "Ich habe mich nie beklagt, nichts bedauert oder gar bereut." Und aller Hoffnung auf bessere Zeiten zum Trotz notierte sie auch grundpragmatisch: "Was heißt hier günstigere Zeiten? Die Zeit, in der man lebt, ist die einzige, also auch die günstigste."

Christa Wolf ist in ihren Briefen nicht anders, aber doch neu zu entdecken: als eine beeindruckend wache, jederzeit Anteil nehmende Zeitgenossin und Gesprächspartnerin. Aus vielen kleinen Momenten setzt sich das Bild ihrer Person, ihr Lebensweg und die deutsche Geschichte in Ost und West zusammen. Und so erfährt man auch etwas darüber, was das ist, diese rätselhafte Sache "Leben", und wie es sich fügt in seine Zeit.

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Quelle:
SZ vom 15.12.2016
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