Deutsche Literatur:Der Herbst des Einsamen

Vor 100 Jahren, am 3. November 1914, starb der Dichter Georg Trakl. Als Buchpreisträger Lutz Seiler dessen Verse als Student in der DDR zum ersten Mal las, veränderten sie sein Leben.

Gastbeitrag von Lutz Seiler

Das erste Gedicht, das ich von Georg Trakl las, war "Der Herbst des Einsamen", das zweite "Grodek". Die Texte, mit Schreibmaschine abgeschrieben, besitze ich noch immer, lose Blätter in einem Schnellhefter zu "Lyrik der Neoromantik und des Expressionismus". Den Hefter hatte ich zu Beginn meines Studiums angelegt, Mitte der Achtzigerjahre. Vorn die Mitschriften und Exzerpte zur Vorbereitung des Seminars, hinten, auf dem Hefterdeckel, ein paar eigene Schreibversuche, spontane Kritzeleien, nur einzelne Wendungen und Worte.

Die Begegnung mit Georg Trakls Gedichten war als Ereignis so groß und umfassend, dass ich es zunächst kaum verstehen konnte. Zwei Nächte lang schlief ich kaum, um alles über den Heeresapotheker, Morphinisten und Opiumesser aus Salzburg zu lesen, was in unserer Institutsbibliothek vorrätig war. Dabei hätte ich nicht sagen können, woher die unmittelbare Wirkung dieser Gedichte auf mich eigentlich rührte: "Unter Dornenbogen / O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht." - - Ja. - Ja? Ich hatte kaum Lektüre-Erfahrung, ich war nicht gebildet oder "vorgebildet", ich kam vom Bau (Baufacharbeiter mit Abitur hieß meine Lehre, mit Fächern wie Baukonstruktionslehre, Werkstoffkunde, Statik) und hatte erst ein gutes Jahr zuvor, während meiner Armeezeit, begonnen zu lesen. Trakl schlug mich vollständig in Bann.

Erste Exkursionen ins Gebiet der Literatur

Tatsächlich zählten die Seminare zur Lyrik des Barock, der Romantik und des Expressionismus zu meinen ersten Exkursionen ins Gebiet der Literatur. Und genauso lesen sich meine Exzerpte zu Trakl im Expressionismus-Hefter - beflissen und bemüht um jedes Detail einer unbekannten Welt, die ich erobern wollte, weil ich gespürt hatte, dass sie mein Eigenes enthielt oder damit in Verbindung stand.

Am Ende umfasste mein Exzerpt gut zwanzig Blätter, mit blauer Tinte eng beschrieben, auf dem breiten Blattrand für Ergänzungen sind die Signaturen der gelesenen Bücher vermerkt, fast ausschließlich Titel aus Vorkriegszeiten, eine Dissertation von 1926, ein Artikel der Zeitschrift Klingsor oder "Das Sinnesleben des Dichters" von Dr. med. Walther Riese, Stuttgart 1928. Aus heutiger Sicht eine krude Anhäufung hochtrabender literarischer Vergleiche (meist Hölderlin, auch Goethe) und hermeneutischer Exzesse von "Schauungen der Seele" über "intuitive Gesichte" bis hin zur "geistig-intuitiven Wesensschau" - und auch das Wort vom "neuromantischen Chaotiker" habe ich notiert.

Ich verstand wohl nicht viel, aber ich spürte, dass all diese Inaugural-Dissertationen und Analysen etwas umkreisten, das mir in Gedichten wie "Herbst des Einsamen", "Sonja" oder "Elis" vom ersten Lesen an begegnet war: die "blaue Stille", die "braune Stille", das "Wandeln in Verlassenheit" oder ein Vers wie "Am Abend regt auf Inseln sich Geflüster" im Gedicht vom "Traum des Bösen".

Schließlich war ich von meinen Nachtschichten mit Lektüre und Exzerpieren derart übermüdet, dass ich im Seminar, auf das ich mich doch so sorgfältig vorbereitet hatte wie auf kein anderes bisher, keinen einzigen Satz herausbrachte. In einer Art Dämmerzustand oder Halbschlaf lernte ich, wie ein Versmaß namens Endecasillabo funktioniert - ein fünfhebiger Jambus zieht sich durch mit Auftakt und klingender Kadenz, bis ein gedachtes Metrum und der Rhythmus des Ganzen harmonieren.

Elf Silben, die Hauptbetonung immer auf der zehnten. Ergebnis ist der Eindruck von Feierlichkeit: "Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle", so hebt der "Herbst des Einsamen" an. Ich lernte etwas über Vokalistik (das A bei Trakl als ein Laut bittender Erhabenheit), über Assonanzen und den Klang des Ganzen - wie das Musikalische die Sinneinheit des Gedichts übernimmt und es dabei zu Korrespondenzen vordringt, die weiterschwingen in der Tiefe unseres Selbst.

Irritiert vom Schwung der Deutungen

Vielleicht hatte mein Schweigen im Seminar auch damit zu tun, dass ich irritiert war vom Schwung der Deutungen, dem Pathos der Hermeneutik alter Schule und erst später begriff ich, was diese allererste Zeit mit Trakls Versen für mich eigentlich bedeutete: den Beginn eines neuen, eigenen Lebens. Eine Verwandlung, eine Zäsur. Erst jetzt, mit Trakls "Herbst des Einsamen" im Ohr, konnte ich mein bisheriges Dasein auf Baustellen und in Maurer- und Zimmermannsbrigaden endgültig hinter mir lassen - so dachte ich damals.

Was genau genommen ja niemals geschieht, denn alles, was war, bleibt für immer ein Teil des eigenen Lebens, und auch das Bauwesen geht ins Schreibwesen ein, wenn nicht als Thema oder Stoff, so doch als eine Einstellung im Umgang mit der Sprache, und auch sonst war es damals noch lange nicht vorbei. Als die Mauer fiel, kam der Maurer wieder ins Spiel: "Du hast ja noch dein ganzes Werkzeug, Junge", sagte meine Mutter, als wir am 10. November, einen Tag nach der Grenzöffnung, miteinander telefonierten - ein Dasein als Maurer schien ihr unter allen Umständen geeignet, eine Existenz zu sichern, geeigneter jedenfalls als die Literatur.

Eingang in eine neue Freiheit

Was also war dieses Neue, das von Trakls "Herbst des Einsamen" ausging? Kurz gesagt: Es war das Erlebnis des Gedichts, eine Art Epiphanie - etwas wird in Worten hörbar, das sich nicht in Worte fassen lässt. Und nicht nur etwas, sondern vielmehr, das Eigentliche, Wesentliche, so jedenfalls empfand ich es damals. Dazu das Gefühl, den Eingang in eine neue Freiheit gefunden zu haben, die Verheißung einer eigenen, phantastischen Welt jenseits der öden, reglementierten, die uns umgab.

Wie seltsam dabei, dass es gerade die Gedichte Georg Trakls waren, die dieses Gefühl einer Öffnung bewirkten, Gedichte, in denen doch eher die Bilder von Abschließung und Abwendung überwiegen, eine Abkapslung vom äußeren Leben, die mir wie eine Unabhängigkeitserklärung vorkam: "In blauem Kristall / Wohnt der bleiche Mensch, die Wang' an seine Sterne gelehnt . . ." Ja, sicher, er ist allein und bleich, aber ganz für sich, und er hat seine eigenen Sterne, für euch unerreichbar, dachte ich, aber für ihn so nah und vertraut, dass er jederzeit seine Wange daran legen kann. So ungefähr.

Verweigerung von Gefolgschaft

Die Wohnorte der Seele sind ein großes Thema in Trakls Werk - Franz Fühmann hat in seinem großen, unübertroffenem Essay "Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht" darauf hingewiesen. Die Sehnsucht nach einer Behausung des Eigenen, Geistigen war etwas, das auch uns umtrieb, damals im Seminar. Die Literatur konnte das sein, daran hatte ich fortan keinen Zweifel mehr, und genau das war der Beginn jenes neuen Lebensgefühls.

Voraussetzung dafür waren zweifellos die Umstände der Zeit Mitte der Achtzigerjahre. Die Verweigerung von Gefolgschaft wird eine Rolle gespielt haben - die Dichter der sogenannten mittleren Generation (unserer Väter, wenn man so will) dominierten die Literatur der Gegenwart mit ihren an Brecht und der Aufklärung geschulten Poetologien.

Ein Gedicht als kostbarste Sache der Welt

Und mindestens ebenso wichtig scheint mir heute die überbordende Emotionalität der jungen Jahre, als ein Gedicht als die kostbarste Sache der Welt angesehen werden konnte und ebenso behandelt wurde. Heute kann man das belächeln, diese manchmal unerträgliche Ernsthaftigkeit, jenen Überschuss an Glauben und Gefühl, ohne den jedoch kein tragfähiger Anfang zustande kommt und der auch in späteren Zeiten fortwirkt als eine Art Glutkern im Umgang mit Literatur, trotz gewachsener Skepsis und nachlassender Neugier.

"Am Abend tönen die herbstlichen Wälder / Von tödlichen Waffen, die goldenen Ebenen / Und blauen Seen, darüber die Sonne / Düstrer hinrollt . . ." Das zweite Trakl-Gedicht, das wir im Seminar besprachen, war "Grodek". Es hatte mich damals nicht im gleichen Maße berührt wie "Der Herbst des Einsamen", ich wusste auch kaum etwas darüber, meine Exzerpte gaben dazu nichts her. Ich wusste auch nicht, dass Gródek in Galizien liegt, bei Lemberg, hatte keine Ahnung von den Hintergründen des Gedichts, das mir heute als eines der stärksten erscheint.

"Was kann ich tun, wie soll ich helfen?"

Nach der Schlacht bei Gródek war Trakl zwei Tage mit neunzig Schwerverwundeten in einer Scheune eingeschlossen, ohne Arzt und ohne Medikamente. Mit Soldaten, die darum bettelten, erschossen zu werden und solchen, denen das noch selbst gelang. "Sterbende Krieger, die wilde Klage / Ihrer zerbrochenen Münder" - Trakl war ihr Sanitäter, er war verantwortlich. Die Wände der Scheune seien voller Blut und Gehirn gewesen, so heißt es in einem Augenzeugenbericht, auf den sich Ludwig von Ficker bezieht, Trakls Freund und Förderer.

Als Trakl nach zwei Tagen das Notlazarett verlassen konnte, hingen die Bäume voller Leichen, eine Vergeltungsaktion der k. u. k. Armee, der Trakl angehörte. "Was kann ich tun, wie soll ich helfen?", soll er den Toten zugerufen haben. Im Oktober 1914 wurde Trakl zu "Beobachtung und Diät" nach Krakau gebracht. Er hatte versucht, sich umzubringen, und er hatte sich als Dichter bezeichnet, was den Ärzten des Garnisonshospitals ihre Diagnose ("Geistesstörung") zu bestätigen schien.

Kokain trug er heimlich immer bei sich

Wenige Tage vor seinem Tod bittet Trakl den Kurt Wolff Verlag telegrafisch um die Zusendung eines Exemplars von "Sebastian im Traum", jener Sammlung, die auch das Gedicht "Der Herbst des Einsamen" enthält. Am 3. November stirbt der Dichter an einer Überdosis Kokain, das er heimlich immer bei sich trug. Sein neues Buch hat er nicht mehr gesehen.

Am 6. Februar 2008 hatte ich eine Lesung von Gedichten in Innsbruck, im Literaturhaus am Inn, in dem auch das Archiv des Brenner untergebracht ist, jener Zeitschrift, in der Trakl die meisten seiner Texte publiziert hat. "Hier liegt Trakl", plötzlich hatte ich diesen Gedanken, mitten in meiner Lesung - warum nicht schon eher, fragte ich mich später, auf dem Heimweg, als ich den Augenblick ins Notizbuch schrieb, es war, als hätte erst das Lesen der Gedichte ein Licht eingeschaltet in meinem Kopf.

Und tatsächlich: Genau in meinem Rücken, hinter der Bühne, backstage sozusagen, lag der Eingang ins Brenner-Archiv. Nach der Lesung fragte ich danach, und es stellte sich heraus, dass der Leiter des Archivs im Publikum gewesen war. Zwei Minuten später hielt ich das Kästchen mit Trakls letztem Brief (dem sogenannten Testamentsbrief) in den Händen.

Trakl hatte aufgegeben, mitten im Gedicht

Oben lag der Brief mit dem Vermächtnis ("dass meine liebe Schwester Grete, alles was ich an Geld und sonstigen Gegenständen besitze, zu eigen haben soll"), darunter die letzten beiden Gedichte, "Klage" und "Grodek". Vor seinem Tod hatte Trakl den Brief mit den Gedichten nach Innsbruck geschickt - zur Veröffentlichung im Brenner. "Grodek": das leicht fleckige graue Papier und die Bleistiftschrift - ein paar Sekunden hielt ich das Blatt in den Händen. Keine andere Dichtung hat mich schlaflos gemacht.

Gut zwanzig Jahre nach unserem Seminar mit Lektürenächten und Exzerpten stand ich in Innsbruck, in der obersten Etage eines Hochhauses mit Blick auf den Inn, gelehnt an einem Archivschrank aus Stahl und starrte auf das Blatt mit dem Gedicht. Es war, als hätte ich eine ziemlich lange Reise gemacht und wäre plötzlich angekommen.

Manische Sucht nach dem Detail

Das erste Gedicht mit dem Titel "Klage" war klar und akkurat in der Handschrift - um Fehlern im Druck vorzubeugen, erklärte der Archivar. "Grodek" jedoch, das zweite Gedicht, war nur bis zur fünften Zeile gut lesbar. Mit dem Vers von den sterbenden Kriegern und "der Klage ihrer zerbrochenen Münder" endete das Bemühen des Dichters um eine gute Druckvorlage - als wäre es ihm plötzlich nicht mehr darauf angekommen. Trakl hatte aufgegeben, mitten im Gedicht.

"Wahrscheinlich hat er es schon geahnt, ein paar Tage später war er tot." Der Archivar nahm mir das Blatt aus den Händen und verwahrte es im Kästchen. "Oben etwas Staub auf dem Stahlschrank, klimatisierter Raum, zehnte Etage", steht in meinem Notizbuch über diesen Tag in Innsbruck. Nicht nur der Glutkern der frühen Jahre (die Bereitschaft abzuknien vor einem guten Gedicht) ist entscheidend für das Schreiben, auch die manische Sucht nach dem Detail, wie belanglos es auch immer erscheint - nur etwas Staub auf einem Stahlschrank, in dem "Grodek" liegt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: