Süddeutsche Zeitung

Deutsche Literatur:Das verlorene Drachenkind

Zwei neue Bücher der deutsch-japanischen Autorin Yoko Tawada, die den immer wieder neuen Zugang zu einer fremden Sprache zu ihrem poetischen Prinzip gemacht hat.

Von Burkhard Müller

Sprache nützt sich ab in ihrem alltäglichen Gebrauch und sollte darum von Zeit zu Zeit erfrischt werden. Zum Glück gibt es immer auch Menschen, für die sie nicht Mutter-, sondern Fremd- oder Zweitsprache ist. Ihnen fallen Dinge auf, an die ein Muttersprachler nie im Leben denken würde. Yoko Tawada lebt und schreibt seit mehr als dreißig Jahren in Deutschland, aber sie staunt immer noch über Sachen, die den Eingesessenen selbstverständlich vorkommen. Man nehme etwa das Wort "Seepferdchen", das im Deutschen Assoziationen eines Huftiers hervorruft: Sieht der Kopf nicht wirklich aus wie bei einem Pferd? Auf Japanisch heißt es "tatsu-no-otoshigo", "das verlorene Kind des Drachens", lässt also mehr an ein legendäres Reptil als einen realen Großsäuger denken. Und nicht nur niedlich ist es, sondern weckt den Beschützerinstinkt: Man möchte es gleich in den Arm nehmen und seiner Mama zurückerstatten.

Mit dem Wort "Lufthansa" kann sich Tawada nicht vertraut machen, es enthält nicht genügend Vokale, und so wird für sie daraus "Lufutohansa", denn: "Wo soll ich sonst hin mit meinen Gefühlen, die nur in den Vokalen zu Hause sind?" In den europäischen Sprachen gibt es interessanterweise gleich zwei Wörter für die Zeit am Ende des Tages nach der Arbeit: Abend und Nacht, für die je ein eigenes Verhaltens-Repertoire gilt. Das Japanische hingegen kennt nur ein einziges: "yoru", mit dem Ergebnis, dass die Japaner alle zu kurz schlafen. Das sind gewiss keine Kleinigkeiten.

Das reinste Deutsch spricht man bekanntlich in Hannover, auf der Theaterbühne

"Akzentfrei" hat Tawada ihre Essay-Sammlung genannt, ein Titel nicht ohne Ironie. Akzentfrei zu sprechen, darin besteht der höchste Ehrgeiz des Sprachenlerners. Aber wäre das denn wünschenswert oder überhaupt möglich? In Japan hörte die Autorin, das reinste Hochdeutsch würde in Hannover gesprochen, und zwar auf der Theaterbühne. Ganz zu Recht wendet sie ein, nicht einmal in Hannover würden die Menschen auf einer Bühne geboren. Ein Akzent ist eine Physiognomie, wie ein Gesicht, dessen Falten auf die Geschichte eines Lebens verweisen. Das ermutigt auch den späten Lerner, es noch mit einer neuen Sprache zu versuchen. (Die alte, meint Tawada, kann er ja in Gestalt des Akzents mitnehmen.) Der Akzent begünstigt die Poesie, die sich am Ungewohnten entzündet und erinnert daran, wie verschieden die Menschen sind. "Eine Kellnerin öffnet ihren Mund, schon bin ich unterwegs nach Moskau, nach Paris oder nach Istanbul. Die Mundhöhle der Kellnerin ist der Nachthimmel, darunter liegt ihre Zunge, die den eurasischen Kontinent verkörpert. Ihr Atemzug ist der Orientexpress. Ich steige ein." Freilich zeigen sich nicht alle Alteingesessenen von solcher Bereicherung erfreut. Manche fallen der Sprecherin nach jedem dritten Satz ins Wort, um immer von Neuem zu wiederholen: "Es ist erstaunlich, wie gut sie Deutsch sprechen!". Das ist ein vergiftetes Kompliment. Es legt den anderen darauf fest, dass er in all seinen Anstrengungen eben dies, der andere, bleiben soll, wobei ihm, scheinbar großzügig, seine "Herkunft" gutgeschrieben wird. "Anscheinend ist es für sie unheimlich, dass jemand weder dazugehört noch fremd ist." So viel zum Starr- und Engsinn der multikulturellen Toleranz.

Tawada interessiert sich besonders für zwei deutsche Dichter, die, jeder auf seine Weise, radikal bis in die Konventionen des deutschen Sprechens eingreifen: Ernst Jandl und Paul Celan. Jandl bewundert sie für die Hemmungslosigkeit, mit der er auf die deutsche Grammatik hämmert, bis eine neue Art von "Schlagzeugmusik" entsteht. Den dunklen Celan verteidigt sie wütend gegen die wohlwollend-kopfschüttelnden Kritiker, die ihm seine Traumatisierung zugute halten, einräumen, er schaffe neue Freiheiten, aber tadeln, dass er auf diese Weise den Raum der Kommunikation verlasse und letztlich ins Leere gehe. Sie hält dagegen: "Er hatte sich selbst schonungslos der Sprache gegenüber geöffnet, ohne seine Dichterperson durch ein Manifest zu schützen. Damit hat er auch diese eine Sprache, Deutsch, so weit geöffnet, dass sie aufhörte, eine Sprache zu sein." Was ist eine Sprache aber dann, wenn sie aufhört, eine Sprache zu sein? Tawada scheint manchmal anzudeuten, dass sie an einen von zahlreichen Bezügen durchzogenen Klangfetisch denkt. Geht das aber nicht zu weit? Und ist es nicht letztlich zu wenig?

Von Yoko Tawada ist im Herbst noch ein anderes, ein sehr anderes Buch erschienen. "Ein Balkonplatz für flüchtige Abende" besteht aus 14 überwiegend langen Gedichten, die jedes für sich und alle gemeinsam eine Geschichte erzählen. Zusammengehalten werden sie durch das Personal, vor allem das konstante weibliche Ich. Die freien Verse erscheinen schlicht und anspruchslos - und doch ist der Zeilenbruch hier keineswegs Manier oder Trick. Im Gegenteil, wollte man sich das Ganze als fortlaufende Prosa vorstellen, so würde es erst jenen bedeutungsschwangeren Lakonismus annehmen, der am lyrischen Habitus manchmal so nervt.

So aber bietet sich der Text mit der Qualität des Leichten und Federnden dar, angenehm schlank trotz der Länge, eine Form, die Tawada sozusagen unterwegs erfindet. Schauplatz ist unverkennbar Hamburg. In einem "Vorspiel" bittet nachts ein angetrunkener Mann das Ich des Gedichts darum, für ihn Schmiere zu stehen, während er in den Büschen pinkeln geht. Dann aber bemerkt er die Irrigkeit seiner Voraussetzungen: "Er mustert mich vom Haar bis zum / Schuh und sagt: / Ach was! Ein Mädchen bist du! Das / hätte ich nicht gedacht. So ein Schei...!" Die Angesprochene gerät ins Sinnieren: "Was wollte er von einem Knaben, / der nicht ich war?" So ahnt der Leser beizeiten, welche Rolle hier die schillernden Gender-Aspekte spielen.

Die unerschöpflich über das Deutsche staunende Autorin ist vor Kalauern nicht gefeit

Ein besonders langes Stück heißt "Männliche Melancholie". Dass es auf Dürers Grafik Bezug nimmt, muss man nicht wissen, wenn man als Komplize zusammen mit dem Ich die beiden Freunde im botanischen Garten belauscht. Der eine, "Jupiter" geheißen, ein verwöhnter Schauspieler, schiebt im Wagen schon wieder ein neues Kind von einer schon wieder neuen Lebensgefährtin vor sich her und bewahrt, obwohl von allen Seiten belagert, Gelassenheit. Sein Begleiter dagegen, "Wermut" genannt, scheint erheblich angefressen zu sein, er findet bei den akademischen Kollegen nicht die erhoffte Anerkennung. So recht zufrieden wird das Ich mit ihm als Lover nicht, ebenso wenig wie mit dem Chirurgen, der sie in sein Heim einlädt, um Opern zu hören: "Sie sitzen steif auf dem / Sofa, als wollten sie den Herd der Sippe hüten. / Das hat Wagner nicht gewollt...". Weit mehr Verlass ist da auf die verständnisvolle Elsa. "Verletzte Kriegerinnen umarmen sich, / Zwei Wunden klebten aneinander. / Der Öffner hat die Form eines Herzens. / Bier, wir, Wein, weinen." Getränk und Gefühl gehen ineinander über. "Prosit auf die ewige Freundschaft! / Prosit auf schwer erziehbare Mädchen!" Da ist durchaus auch Platz für kleine Gemeinheiten. Eine junge Frau im Bikini, "ein kümmerlicher Bauchnabel und aufgeblasene Brüste", wird umgehend "Melondine" getauft, ein Fantasiewort, in dem sich Blondine, Undine und Melone ein boshaftes Stelldichein geben.

Tawadas Finderglück streift mitunter den Kalauer. Der Name des Malers Vermeer tritt in Verbindung zu den vielen Kindern, die er zeugte. Und den "Urinstinkt" trennt nur ein schmaler Buchstaben-Spalt von der Aussage "Urin stinkt". Das freilich wussten Tawadas Leser schon vor ihr. Aber weil sie so stolz ist auf den Fund, freut man sich gerne mit ihr.

Yoko Tawada: Akzentfrei. Literarische Essays. Konkursbuch Verlag, Tübingen 2017. 140 Seiten, 12 Euro. E-Book 8,99 Euro. Yoko Tawada: Ein Balkonplatz für flüchtige Abende. Konkursbuch Verlag, Tübingen 2016. 126 Seiten, 12 Euro.

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SZ vom 23.06.2017
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