Süddeutsche Zeitung

Deutsche Literatur:Auf dem Asphalt

Zu seinem 75. Geburtstag spendiert der Verlag Diogenes Jörg Fauser, dem großen Meister des BRD-Pulp, eine Neuauflage.

Gastbeitrag von Michel Decar

Auf Youtube kann man sich folgende Szene ansehen: 1984 in Klagenfurt, Jörg Fauser liest beim Bachmannpreis in seinem leicht nuscheligen Hessisch, links und rechts sitzen die Juroren wie die Geier und beäugen den Kandidaten. Fragwürdiger Haarschnitt, Kassengestell, Leinenhemd. All das wirkte verdächtig, unsolide. So einen wollten sie nicht haben in Klagenfurt, im Kulturbetrieb, im Feuilleton. Die Kritikrunde wird vernichtend. Juror 1: "Das sind Versatzstücke, aneinandergereiht." Juror 2: "Wie hier Figuren geschildert werden, das grenzt an Denunziation."

Und dann Reich-Ranicki: "Mit Kunst hat das nichts zu tun." Astreiner Schriftstellermord, Finishing Move, wie aus dem Lehrbuch. Und Fauser? Sitzt da und muss sich das vor laufenden Kameras alles anhören, wirkt tief getroffen, verletzt.

Es war nicht das letzte Mal, dass er so runtergemacht wurde, in die Unterhaltungsecke geschoben, als Krimi-Onkel verhöhnt, lächerlich gemacht. Fauser war immer Außenseiter, war Widerstandskämpfer, einer der jenseits der Stipendien und Literaturhäuser seine Nische gefunden hatte. Fauser schrieb, wie er dachte, wie er konnte, schnell und direkt. Eine Literatur, die nur das sein wollte, was da stand, nichts anderes.

Und er wusste, wovon er schrieb, war ganz unten gewesen, Apomorphin-Entzug, Absturz, wieder neu anfangen, weitermachen, wieder Absturz. Er kannte den Geruch der Fixerbuden, den Mief der Kommunen, das Aroma der Straße. Klar, es gab schon vorher Burroughs und Kerouac, "Naked Lunch" und "On the Road", Bücher, die einem die große Freiheit versprachen, die sagten: Da draußen ist die Welt, die ist dreckig und gemein, aber auch aufregend und schön, die musst du dir jetzt schnappen. Aber das war alles weit weg, das war Amerika, das zählte nicht.

Das fühlte sich nicht wie Literatur an und genau deswegen war es welche

Fauser brachte dieses Gefühl nach Deutschland, leuchtete in die Spelunken, die Gesichter am Tresen, die Augen im Halbdämmer. Frankfurt, München, West-Berlin. Das war Fausers Welt, hier kannte er sich aus, hier war er der Matador.

Das fühlte sich nicht wie Literatur an, und genau deswegen war es welche. Dabei sein, einfach mal machen, auf die Fresse bekommen, leben. Die Welt der Kioske, Nachtzüge und Teehäuser. Szenen am Stehausschank, Szenen in der Morgendämmerung der Bahnhofsviertel, in den Frühlokalen und Imbissbuden, im Zwischengeschoss. Und immer wieder ging es um die BRD, die andere BRD. Und man selbst dachte: Wow, was ist das denn für ein Land, in dem wir leben? So schmutzig und cool, das hatte man so nie gelesen. Nicht bei den anderen, nicht im Staat der moralinen Literatur.

35 Jahre später ist diese Welt beinahe verschwunden, zu Tode kommerzialisiert und marginalisiert. Hier und da schimmert sie noch durch zwischen den Back Factorys, Coffee Fellows und Rewe-to-gos der Innenstädte. Sicher werden am Frankfurter Hauptbahnhof noch heute Nadeln in Venen gejagt, aber auch hier hat sich die Nachbarschaft zum Schrecklichschönen verändert. Vor Kurzem eröffnete das Label "BHFSVRTL" einen Store in der Frankfurter B-Ebene und verkauft nun Pullover und Hoodies mit Markenaufdruck zu 69,90 Euro in den Farben Neon-Pink, Burgundy und Washed Grey. Anschmiegsamer lässt sich dieser bundesrepublikanische Mythenort nicht kapitalisieren. Wobei: Schon Fauser hatte seine Literatur als Business begriffen, als Handwerk, arbeitete im Tempo eines Journalisten. Fauser hatte die Schreibe, war unter Strom, musste geil abliefern. Um mit Kippenberger zu sprechen: Heute denken, morgen fertig.

Anfang der Siebzigerjahre veröffentlichte er seine ersten literarischen Texte im Augsburger Underground-Verlag Maro, der ein paar Jahre später auch Charles Bukowski nach Deutschland brachte. Danach wechselt Fauser in hoher Frequenz Städte, Jobs und Verlage, ringt mit sich und dem Literaturbetrieb, zweifelt, pendelt zwischen Überheblichkeit und Kapitulation, zwischen Betriebsabneigung und Betriebsanziehung. Doch die Würdigung seines Werkes bleibt ihm verwehrt, die Gesamtausgaben und Preise, die Neuauflagen seines Werkes wie jetzt bei Diogenes, wird er nicht mehr erleben.

Das Hässliche und das Normale, das Böse und das Brutale, der ewige Kampf mit sich selbst

Fauser tingelt von einer Redaktion zur nächsten und hält sich mit Jobs über Wasser, arbeitet als Gepäckarbeiter am Flughafen, als Nachtwächter an der Uni. Zur selben Zeit sitzt 250 Kilometer weiter nördlich in Bochum ein anderer Nachtwächter und wartet auf den großen literarischen Durchbruch: Wolfgang Welt (Knausgård-Vorgänger und ewig Gescheiterter, kürzlich neu aufgelegt bei Suhrkamp) der mit maximaler Ehrlichkeit sein Leben aufschreibt. Doch Hyperauthentizität und Tagebuch waren nie Fausers Sache. Auch seine Kunst nährte sich aus dem Autobiografischen, doch da war immer mehr. Fauser stand auf Fiktion, wollte Geschichten erzählen, die bestmögliche Story liefern. Wobei er sein Leben oft so lebte, als wäre es eine.

"Wir fuhren mit der U-Bahn nach Schöneberg. Caspar reiste ohne Gepäck. Ich hatte einen schweren Wintermantel an und einen Koffer dabei, der randvoll war mit Büchern, Pullovern, Socken, Unterwäsche, Notizheften, Pamphleten, Schals, Wollhandschuhen, Schallplatten, Medikamenten aus Krankenhausbeständen und Manuskripten. Wir waren auf dem Weg in der Berliner Underground, er, um Revolution zu machen, ich, um Material für meinen neuen Roman zu sammeln. Ich hütete mich natürlich, das zu erwähnen. Ich war auch Anarchist." Über Hunde sagt man ja, dass sie oft ihren Herren ähnlich sehen, oder umgekehrt. Bei Fauser müsste man das Gleiche wohl von seinen Büchern sagen.

Zugegeben, er war kein begnadeter Stilist, hatte keine Sprache wie Bernhard, keine Eleganz wie Dürrenmatt. Es waren auch nicht die großen politischen Konstruktionen, die ihn interessierten. Nicht die großen Weltentwürfe, die großen Gesellschaftsabrisse. Ihn interessierte was anderes. Das Hässliche und das Normale, das Böse und das Brutale, der ewige Kampf mit sich selbst. "Endlich ging es nicht mehr um Liebe, ich war die Liebe los und das Bewusstsein auch, es war ganz einfach, man konnte sie ertränken und auslöschen, alles in einer Nacht, in einem Rausch, mit einer wilden, bösen Nummer."

Und da war sein Hang zur Kriminalgeschichte, zur Räuberpistole, zum kalifornischen Hardboiled, aus der er seine eigene Suppe kochte: bundesrepublikanischen Pulp par excellence.

Dabei war er immer am stärksten, wenn er bei sich war, keinen Krimi schrieb. Es gibt diese Bücher, die einen packen, bei denen es aber trotzdem schwer ist zu sagen, worin die eigentliche Qualität liegt, und plötzlich ist es drei Uhr nachts, weil man nicht aufhören konnte zu lesen. "Rohstoff" ist so ein Buch, einer der besten deutschen Romane des 20. Jahrhunderts. Wenn man das liest, will man sofort mit dabei sein, in Tophane Opium drücken, in Frankfurt Häuser besetzen, den großen Wurf planen und scheitern, immer wieder scheitern, mitmischen, mitleiden, und rufen: Ja, genau so, weiter!

Und da ist natürlich noch das Ende, sein Ende. Ein mysteriöser, früher Tod, bis heute nicht aufgeklärt, auch das ein Story für sich. Und grandiose Enden schreiben konnte Fauser ja. Zum Beispiel im "Schneemann" (später schlimm verfilmt mit Müller-Westernhagen im weißen Leinenanzug). Da gibt es den Protagonisten Siegfried Blum, Kokaindealer wider Willen, der am Ende alles verloren hat: Frau weg, Geld weg, Traum geplatzt. Tja, und dann? "Ja, was machte er jetzt? Er hatte wieder die Qual der Wahl. Manche Firmen gingen bankrott, und andere machten weiter. Manche Menschen verloren, aber damit hatten die anderen noch nicht gewonnen. Er warf seine Kippe in den Wind und blickte auf die Uhr. ,Ich seh mir die Show in der Roxy-Bar an', sagte Blum."

Oder in "Rohstoff". Da wird Fausers Alter-Ego Harry Gelb, besoffen und pleite, aus der Absturzkneipe geschmissen und stellt fest: "Aus der Nähe sah dieses Pflaster interessant aus, es gab sogar einen Riß, der durch den Asphalt lief, und in dem Riß sproß ein Grashalm. Wenn das so ist, dachte ich, kannst du auch aufstehn".

Und dann, der 16. Juli 1987. Jörg Fauser unterbricht die Arbeit an seinem neuen Roman, um seinen Geburtstag zu feiern, verschwindet irgendwann im Nebel der Nacht, fährt in ein Bordell nach Ramersdorf, und wird ein paar Stunden später als Fußgänger auf der Autobahn von einem Lkw überfahren, auf dem Rückweg nach München. Das ist so tragisch und beschissen und schrecklich und schön, dass man heulen möchte. Außer ihm hätte das keiner hinbekommen. Er bleibt Legende.

Jörg Fauser: Rohstoff Elements. Mit einem Nachwort von Jürgen Ploog. Diogenes, Zürich 2019. 320 Seiten, 24 Euro.

Das Schlangenmaul. Roman. Mit einem Nachwort von Friedrich Ani. Diogenes, Zürich 2019. 348 S., 24 Euro.

Michel Decar, 1987 geboren, ist Schriftsteller und Dramatiker. Sein Stück "Philipp Lahm" wurde 2017 in München uraufgeführt, 2018 erschien sein Debütroman "Tausend deutsche Diskotheken".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4461325
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 25.05.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.