Deutsche Hegemonie:Merkel, Kohl und Europa

File photo of Merkel talking to former German Chancellor Kohl during a wine party in Bavarian town of Castell

Jürgen Habermas lobt Altbundeskanzler Helmut Kohls konsistente Werbung für eine enge Einbindung Deutschlands in Europa. Für die Politik von Kanzlerin Angela Merkel hat der Philosoph weniger übrig.

(Foto: REUTERS)

Warnung vor den Machtphantasien eines "Deutschen Europas": In der belgischen Universitätsstadt Löwen kritisiert Jürgen Habermas Merkels Rezepte in der Eurokrise. Ganz anders beurteilt er Helmut Kohl.

Von Cerstin Gammelin, Brüssel

Der Auflauf an Menschen hätte vermuten lassen können, ein Rockstar habe sich in die beschauliche belgische Universitätsstadt Löwen verirrt. Es war Freitagabend, und im Pieter De Somer Auditorium drängelten sich Hunderte. Dann, gegen halb sechs, trat der Mann auf die Bühne, dem zuzuhören sie alle gekommen waren: Jürgen Habermas. Der Philosoph führte seine Zuhörer eine Stunde lang durch die Abgründe Europas, er beschwor Demokratie und Solidarität - und vor allem Deutschlands Rolle in Europa.

Der Zufall hätte kaum besser Choreografie führen können. Am Freitagmorgen war ein Papier der Linken in der französischen sozialistischen Regierungspartei PS von François Hollande durch ganz Europa gerauscht, in dem diese in ungewöhnlich klaren, ja regelrecht undiplomatischen Worten forderten, Frankreichs Regierung solle sich abwenden von Bundeskanzlerin Angela Merkel und deren Europapolitik. Dass sie "egoistisch" sei, war noch eine harmlose Formulierung gegen das, was noch alles in dem Papier zu lesen war.

Auch Jürgen Habermas warnte in Löwen - dreißig Kilometer östlich von Brüssel - vor deutscher Kurzsichtigkeit, die Deutschland ins Abseits führe und die Europäische Union im schlimmsten Fall zerstören könnte. Aber der Philosoph holte weit aus, um die historische Verantwortung der Bundesregierung zu begründen. Deutschland halte den Schlüssel für das Schicksal der EU in der Hand, sagte Habermas.

Wenn es eine Regierung in Europa gebe, die eine Änderung der Europäischen Verträge initiieren könnte, dann sei es die in Berlin. Und es liege im deutschen Interesse, voranzugehen. Habermas forderte die Bundesregierung auf, sich dieser Verantwortung nicht zu verweigern - und verwies auf Parallelen zwischen der Euro-Krise und der Situation nach 1871.

"Einseitig nationaler Kurs"

Nach der Gründung des Deutschen Reiches habe das Land einen "fatalen halbhegemonischen Status" eingenommen, den Ludwig Dehio einst so beschrieb: "Zu schwach, um den Kontinent zu dominieren, aber zu stark, um sich einzuordnen".

Inzwischen erscheine eine Wiedergeburt dieses Dilemmas, das nur dank der europäischen Vereinigung nach 1945 überwunden wurde, nicht mehr ausgeschlossen. "Die Führungsrolle, die Deutschland heute aufgrund demografischer und ökonomischer Stärke zufällt, weckt nicht nur um uns herum historische Geister, sie verlockt uns auch, einen einseitigen nationalen Kurs zu wählen".

Politischen Einfluss teilen

Jürgen Habermas warnte davor, Machtphantasien eines "Deutschen Europas" statt eines "Deutschland in Europa" zu erliegen. "Wir Deutschen sollten aus den Katastrophen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelernt haben, dass es in unserem nationalen Interesse ist, permanent das Dilemma des halbhegemonischen Status zu vermeiden", sagte der linke Philosoph - und lobte dann ausgerechnet Helmut Kohl.

Das Verdienst des früheren Bundeskanzlers sei nicht die Wiedervereinigung und die Wiederherstellung einer Art nationaler Normalität, sondern die Tatsache, dass dieses freudige Ereignis verbunden wurde mit der konsistenten Werbung für eine enge Einbindung Deutschlands in Europa.

Habermas ist nicht der Einzige, der inzwischen vor der Hegemonie Deutschlands warnt. Auch Polens Premierminister Donald Tusk hatte jüngst in Berlin im Beisein Angela Merkels diese Sorge formuliert. Es sei eine "gefährliche Falle", dass in Deutschland ein Rezept ausgearbeitet werde, das für alle in Europa annehmbar sein müsse, sagte er. Das gelte auch für deutsch-französische Absprachen. Deutschland müsse eine Rolle von Verantwortung und Solidarität übernehmen.

Auch Habermas wünscht sich mehr Solidarität. Was nicht bedeute, Geld zu transferieren. Solidarität heiße, politischen Einfluss zu teilen. Er widersprach dem Ansatz Merkels, dass jedes Euro-Land für sich wieder wettbewerbsfähig werden müsste. Es sei nicht ausreichend, den Status quo der Währungsunion erhalten zu wollen.

Die Länder des Währungsgebietes drifteten immer weiter auseinander, es sei nicht genug, überschuldeten Staaten Kredite zu geben, damit diese allein irgendwie auf die Beine kämen. "Was stattdessen nötig ist, ist Solidarität, also eine gemeinsame Anstrengung aus einer gemeinsam geteilten politischen Perspektive heraus, um Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in der Euro-Zone als einem Ganzen zu erreichen", forderte er.

Standing ovations

Die Euro-Länder müssten in einem ersten Schritt "einen konsistenten Beschluss" fassen, die Wirtschafts- und Währungsunion zu einer politischen Union zu erweitern, also eine Art Kerneuropa zu schaffen, das offen sei für alle anderen Länder, vor allem zunächst für Polen.

Habermas warnte in Löwen eindringlich vor der Gefahr, dass die "technokratische Dynamik der Krise" zu dubiosen, marktkonformen Demokratien führen könnte, die den Befehlen des Marktes noch hilfloser ausgesetzt seien. Um dies zu verhindern, müssten alle Beschlüsse von den europäischen Gremien legitimiert werden. Nach zwei Stunden gab es standing ovations für den 83 Jahre alten Philosophen - der gerührt um Verständnis bat, so lange geredet zu haben.

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