Süddeutsche Zeitung

Sachbuch von Helmut Walser Smith:Mehr Vorstellung als Wille

Helmut Walser Smiths neues Buch "Deutschland" und die Frage, was es heißt, deutsche Geschichte zu erzählen.

Von Gustav Seibt

Dies ist ein Buch, das sich leicht und schön liest, aus dem man aber nicht leicht klug wird. Es ist voller anschaulicher Schilderungen und entzückender Details, aber man kann lange rätseln, wofür genau sie da sind und was sie zeigen sollen. Es geht, präziser kann man es nicht zusammenfassen, um Wahrnehmungen von Deutschland seit der frühen Neuzeit. Man könnte den Haupttitel in Anführungszeichen setzen, dann wäre klar, dass es sich nicht um ein historisches Kollektivsubjekt mit einer durchgehenden Geschichte handelt, also auch nicht um die "Deutsche Geschichte" seit 1500.

Denn das suggeriert der Untertitel "Geschichte einer Nation". Im amerikanischen Original - der Verfasser Helmut Walser Smith ist Professor an der Vanderbilt University in Tennessee - lautet er präziser: "A Nation in its Time: Before, During and After Nationalism". Die Nation wird also getrennt von der Ideologie, von der sie eigentlich geformt wird, dem Nationalismus. Es gab ein Davor und Danach. Also geht es nicht allein um "Nation" als politische Willensgemeinschaft, die kulturell, sprachlich, ethnisch oder staatsbürgerlich begründet wird und sich in einem Staat mit Verfassung, Recht und fixen Grenzen verwirklicht.

Deutschland lebte in nationalistischen Zeiten, ohne dass seine Gesellschaft in der Breite schon nationalistisch war

Dass keine Nationalgeschichte in diesem Verständnis von Nation aufgeht, ist allerdings längst Konsens. Auch der Volksbegriff wurde umfassend relativiert: "Volk" als politischer Akteur wird fassbar erst in einem Staat, er geht ihm nicht voraus. In Deutschland ist der Fall besonders kompliziert, weil der spät gegründete Nationalstaat keine zentrale Monarchie oder ein Parlament beerbte wie in Frankreich oder England. Der deutsche Nationalstaat von 1870, in dessen Nachfolge auch die Bundesrepublik noch existiert, war ein komplexes Produkt der Hegemonie Preußens über kleinere Staaten (den Bundesstaaten wie Bayern oder Sachsen) und einer bürgerlichen Nationalbewegung, deren Anfänge ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Diese hatte kulturelle Hintergründe, wurde durch die Revolutionskriege 1792 bis 1815 verschärft und politisiert, scheiterte 1848, um sich danach mit der Großmacht Preußen zu verbünden.

Aber auch lange davor gab es ja schon Deutschland: als geografischen Raum, als Sprachgebiet und als "Reich" mit geschichtstheologischer Anknüpfung an die Antike. All das gehört in eine Deutsche Geschichte, die zunächst ein Raum ist, in dem viele wechselnde Akteure in variablen Strukturen, mit unterschiedlichen Formen von Zugehörigkeit auftraten, in einem europäischen Umfeld, das moderne Staatsbildung annähernd taktgleich zeigte, mal in großen, mal in kleinen Räumen. In Deutschland zunächst in kleineren, lokaleren Einheiten als etwa in Frankreich.

Wenn man Walser Smiths Buch in dieses Begriffsraster einfügt, begreift man besser, was es soll und nicht will. Es ist nämlich nur zum kleineren Teil eine politische Geschichte - man streiche für die ersten 200 Seiten diese Dimension des Begriffs "Nation". Es geht ums Sehen, Erfahren, Wahrnehmen. Zum Beispiel sehr wesentlich um Landkarten. Seit der frühen Neuzeit lösten sie die auf Strecken und Namen fixierten mittelalterlicher Itinerare (Wegbeschreibungen) ab und zeigten ein "Gebiet" von oben. Da wird "Deutschland" anschaulich, als Raum vorstellbar, besiedelt von zahllosen Städten, die in schönen topografischen Bänden jede für sich gezeichnet und gestochen werden. Aber auch "Bayern" wird ein solcher anschaulicher Raum, in Philipp Apians wundervollen, wunderbar genauen "bairischen Landtafeln" (heutzutage bequem im Netz betrachtbar). Dieses "Deutschland" ist sehr wesentlich ein Produkt von Buchdruck und Druckgrafik.

Reisende beschreiben solche Räume und vergleichen sie mit anderen. Dabei wird der Nationsbegriff, der im Mittelalter vor allem "Herkunft", "Abstammung", "regionale Gemeinschaft" bedeutete, Teil größerer Wahrnehmung, schon ein schwacher Vorschein jener "vorgestellten Gemeinschaften", die später die politischen Nationen konstituieren. Und nicht nur Deutsche bereisen Deutschland, sondern auch viele kluge Fremde wie Madame de Staël.

Walser Smith erweitert diesen geografischen Strang durch Einbeziehung militärischer Raumerfassung - im Zeitalter konfessioneller Kriege - und späterer industrieller oder administrativer Raumdurchdringung in Infrastrukturen, vor allem der Eisenbahn oder von Statistik. Parallel entwickelt sich ein romantisches Sehen beseelter Landschaften, die von einem idealisierten "Volk", samt naturwüchsigen Sitten, eigener Sprache und Poesie, belebt werden. Auch der Caspar-David-Friedrich-Blick hat das Deutschlandbild geformt.

Die Politisierung, das eigentlich Nationale, ist Kriegsfolge, vor allem der napoleonischen Zeit. Doch Walser Smith beharrt darauf, dass Deutschland lange Zeit kein Raum prononcierter Nationalgefühle war. Es waren auswärtige Beobachter wie Madame de Staël und Intellektuelle wie Herder oder Fichte, die deutsche Nationalverständnisse anspruchsvoll auf philosophisch-politische Begriffe brachten. Deutschland lebte in nationalistischen Zeiten, ohne dass seine Gesellschaft in der Breite schon nationalistisch war. Immerhin wurde im späten 19. Jahrhundert der Landesraum mit Geschichtszeichen und Großdenkmälern möbliert, fast wie die Wohnzimmer der patriotischen Kulturbürger.

Für Walser Smiths Erzählung spielen nicht zuletzt Demütigungsgefühle nach der Niederlage von 1918 eine zentrale Rolle

Ein politischer Patriotismus aber hatte sich als Loyalität zu den Landesherren zuvor schon auf lokaler Ebene ausgebildet, er ging nur schrittweise aufs nationale Ganze über. Dann wurde, wiederum als Kriegsfolge, nämlich seit 1914 Deutschland wirklich nationalistisch. Erst an diesem Punkt wird auch Walser Smiths Erzählung vollends zu einer politischen Geschichte, in der nicht zuletzt Demütigungsgefühle nach der Niederlage von 1918 eine zentrale Rolle spielen. Diese Nationalhistorie kulminiert in verstörenden Schilderungen der Gewaltexzesse des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts. Die lange Dauer von Judenfeindschaft war schon davor ein Leitmotiv der Darstellung.

Die Wirkungen von Vernichtungskrieg und Genozid aufs deutsche Selbstverständnis seither sind unbezweifelbar, man kann aber fragen, ob mit der rassistischen Hintergrundideologie dieser Exzesse der Raum "nationaler" Begriffe nicht schon wieder verlassen war - es ging um eine herbeifantasierte planetarische Rassenbiologie, die angestammte Geschichtsräume zu Lebensraum umdefinierte. Das Opferverlangen in diesem Rassenkrieg folgte der pseudodarwinistischen Logik des Kampfes Starker gegen Schwache. Das ist etwas anderes als das Opfer im "Tod fürs Vaterland", der im 18. Jahrhundert als antikisches, republikanisches Ideal neu idealisiert wurde.

Vom Raum zu Volk und Landschaft bis zur staatlichen und am Ende mordenden Nation geht also das Itinerar von Walser Smith. Am Schluss mündet es in die Entnationalisierung der Zeit seit 1945, die Nation als Mitleidsgemeinschaft erneuerte. Hier findet Walser Smith gute Worte für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, für die Verwandlung in ein Einwanderungsland und zuletzt für die Freundlichkeit gegenüber Flüchtlingen im Jahr 2015.

Das Buch hat zwei symptomatische Schwächen, die sein Verständnis erschweren

Das Buch hat zwei Schwächen, die sein Verständnis erschweren. Die eine ist begriffliche Unschärfe, vermutlich absichtsvoll. Walser Smith will den Wandel der Vorstellungen und Verständnisse von Deutschland zeigen, dabei spricht er aber doch durchgehend von "Nation", ohne den Begriff und seinen Wandel jeweils explizit zu erklären. Damit entsteht eine Quelle beträchtlicher Unklarheit. Um Carl Schmitt abzuwandeln: Alles fließt, spricht Heraklit, doch der Begriff, der fließt nicht mit.

Die zweite Schwäche ist inhaltlich. Es fehlt das Alte Reich. Erst ganz spät kommt es im "Reichspatriotismus" des 18. Jahrhunderts zur Sprache. Seine hochmittelalterliche, auf die Spätantike zurückweisende Tradition und Kontinuität bis 1806 aber kommt nicht gebührend in den Blick. Dabei waren Kaiser und Reich, Kurfürsten, Landesherren, Reichsstädte, Reichsritter, Reichstag und Reichsgericht natürlich Orte und Formen deutscher Selbstverständigung, die Dauer und radikalen Wechsel verband. Deutschland war eben auch in der frühen Neuzeit weit mehr als ein Raum oder als Karte und Gebiet. Es besaß lebende Traditionen, über die unentwegt verhandelt wurde, beispielsweise bei jeder Königswahl von Neuem.

Erst mit dem Deutschen Bund von 1815 bringt Walser Smith das für Deutschland so wichtige Motiv des Föderalismus etwas ausführlicher zur Sprache. Was hier fehlt, könnte ein Blick in die tiefgründigste neue Erörterung deutscher Geschichte lehren, Dieter Langewiesches schmales, gewichtiges Buch "Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat" (Kröner Verlag, 2020). Der föderale Begriff des "Bundes" ist die eigentliche Brücke zwischen dem vormodernen und dem heutigen Deutschland.

Warum spricht Walser Smith davon so wenig? Vermutlich weil er, einer soliden historiografischen Tradition folgend, "Reich" und "Nation" in Deutschland trennt. Insgeheim schleicht sich in sein sonst so fluides Verständnis von Nation doch wieder der alte Adam der kleindeutschen Historie à la Heinrich von Treitschke ein. Denn natürlich: Das Alte Reich war eben keine moderne Nation, nicht einmal ihr Vorläufer. Und so bleibt die eigentlich verdienstvolle und auf vielen Seiten innovative, oft auch unterhaltsame Historisierung der Vorstellungen von Deutschland ziemlich unklar. Spaß macht das Buch trotzdem.

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