Eine Liebesnacht hat er sich ausgemalt, der Erzähler von Navid Kermanis neuem Roman, doch dann berichtet ihm die einstmals Angebetete stundenlang von ihrem Ehe- und Familienleben. Er könnte enttäuscht sein, doch so schlecht findet er das gar nicht. Denn er ist Schriftsteller. Er wittert neuen Stoff und schaltet von erotischer Erwartung aufs Zuhören um. Statt in einem Hotel landen die beiden bei ihr zu Hause. Das ist ohnehin praktischer in einem Provinzstädtchen, als dessen Bürgermeisterin sie sich entpuppt. Außerdem kann er dann gleich noch ihren Mann kennenlernen, der sowieso immer spät schlafen geht.
Eine erotische Szenerie sieht anders aus, und der Erzähler lässt uns auch nicht lange im Zweifel, was wir in dieser Hinsicht zu erwarten haben. Schon früh proklamiert er, dass es keine Bettszene geben wird, nicht einmal einen Kuss. Und das, wo es sich bei der Frau um jene Abiturientin handelt, die er in dem Roman, aus dem er gerade im Gemeindezentrum gelesen hat, Jutta nannte: um die "Schönste des Schulhofs" also, wie Kermani-Leser aus seinem letzten Roman "Große Liebe" wissen. Natürlich sollen wir hinter dieser Konstruktion das echte Leben wittern. Der 1967 in Siegen geborene Schriftsteller liebt das Spiel mit der autobiografischen Suggestion - und auch die Koketterie, sie als literarisches Mittel zu exponieren.
An der Geschichte ändert das nichts. Was immer in einem Roman steht, hat der Schriftsteller zu verantworten und nicht das Leben. "Sozusagen Paris" ist als die andere Seite des Flügelaltars konstruiert, den Navid Kermani mit "Große Liebe" begann. Darin erzählte er vom Liebestaumel eines Fünfzehnjährigen, dessen erwachsen gewordenes Ich ihm mit persisch-arabischer Liebesmystik bei der Verklärung seiner Erfahrung assistierte. Es war ein schwungvoller, von Begeisterung und glücklichen Einfällen getragener Roman. Bis hinein in seine essayistischen Ausflüge leichthändig, konnte er dem Leser plausibel machen, dass nur die erste Liebe einen solchen Furor auszulösen vermag.
Ist in der Ehe der früheren Angebeteten noch alles so wie bei Charles und Emma Bovary?
In "Sozusagen Paris" ist die Konstellation umgekehrt. Mit den kümmerlichen Resten enttäuschter Erwartung sitzt der Schriftsteller im Wohnzimmer seiner immer noch attraktiven ersten Liebe und muss dabei zusehen, wie sie alles demontiert: nicht nur das Bild, das er sich von ihr gemacht hat, sondern gleich auch noch ihr Familienleben. Dessen liebenswerte Komponenten sind für den Geschiedenen offensichtlich: die Chipstüten auf dem Sofa, die verstreuten Spielsachen, die Art, wie ihr Mantel über der Jacke ihres Mannes hängt und die anmutige Geste, mit der sie sich die Pumps von den Füßen streift.
War sie gerade noch die umworbene Bürgermeisterin, die beim Abendessen, das der Kulturdezernent eigentlich zu seinen Ehren gab, alle Aufmerksamkeit auf sich zog, so ist ihr Charme plötzlich erloschen. Dabei war sie nur kurz im Arbeitszimmer ihres Mannes. Er ist Arzt und sitzt noch über der Abrechnung. Offenbar hat er sich darüber beklagt, dass sie den Kindern nichts zu essen gekocht hat, bevor sie das Haus verließ. Ist also alles noch wie in den düsteren Zeiten von Charles und Emma Bovary?
Während sein Blick über das Bücherregal schweift, dessen Schwerpunkt auf der französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts liegt, beginnt die frühere Geliebte von den letzten dreißig Jahren zu erzählen. Auch sie ist Medizinerin und hat ihren Mann in Ecuador kennengelernt. Geheiratet haben sie nur, um gemeinsam im katholischen Gemeindehaus übernachten zu können. Nicht einmal ihre Eltern wussten davon. Alles also ganz modern und pragmatisch. Als die Kinder kamen, es wurden drei, gingen sie nach Deutschland zurück. Während Jutta eine Flasche Wein nach der anderen leert und auf der Terrasse kifft, bleibt der Erzähler vergleichsweise nüchtern. Er schaltet in den "Aufnahmemodus" und hört vor allem zu.
In einer Art doppeltem Präsens erzählt der Roman, was sich in der Villa und im Präsens des Schreibvorgangs ereignet. Einwürfe des Lektors erhalten ebenso Raum wie ausführliche Referate über die einschlägige Literatur, von Flaubert über Zola, Stendhal, Balzac bis zu Julien Green und Proust. Das schadet eher, als es nützt. Denn es bringt nicht nur die ohnehin mühsam voranschreitende Handlung weiter ins Stocken. Es schiebt sich auch vor die Wahrnehmung des Erzählers.
Das Bücherregal schiebt sich vor die Wahrnehmung des Erzählers, die Handlung gerät ins Stocken
Der meint, den entscheidenden Wandel des Familienmodells darin zu erkennen, dass heute das Wohl der Kinder eine entscheidende Rolle spiele, während sich Emma Bovary kaum um ihre Tochter kümmerte. Dabei beschreibt er eigentlich, wie die doppelte Berufstätigkeit in Kombination mit der Kinderbetreuung dem Paar so zusetzt, dass es den Alltag nur als Zone ständiger Reibungsverluste erlebt. Die Krankheiten sind gemeinsam überstanden - "Malaria, Depression, Krebs" -, aber es gibt nichts in ihrem Leben, das nicht durchorganisiert ist. Selbst der Sex wird in Tantra-Kursen perfektioniert.
Der Erzähler ist Protokollant einer fremden Ehe. Mit dem Blick desjenigen, der eine Scheidung hinter sich hat, sieht er die Vorteile gemeinsamer Häuslichkeit. Zugleich wirkt er aber so interesselos, dass sein Erzählen nicht so recht in Gang kommt. Zwar glaubt er zunächst, für die frühere Geliebte die Sehnsucht nach Aufbruch zu verkörpern - und nennt das in Anspielung auf einen Roman Maupassants "sozusagen Paris". Doch ihre Lebensgeschichte erschöpft ihn so sehr, dass er erst wieder in Fahrt kommt, als er sich auf dem Klo über ein Schild ärgern kann, das ihn zum Sitzen zwingt.
Als er zurückkommt, hört Jutta mit wippendem Oberkörper Musik auf dem Smartphone und reicht ihm einen Kopfhörer. So wippen sie gemeinsam zu Neil Youngs Song "Ramada Inn", in dem sich ein "ganzer Eheroman" versteckt. Zum ersten Mal beleben Emotion und Imagination den Erzählfluss. In seinem Mammutwerk "Dein Name" hat Navid Kermani gegen die Scheidung als vorschnelle Lösung von Ehekrisen polemisiert. Es scheint, als wolle er mit "Sozusagen Paris" für das Festhalten an einer Ehe plädieren, in der sich die Frau zwar unglücklich fühlt, ein unbeteiligter Beobachter aber wechselseitige Liebe erkennen kann. Schade, dass er das Anliegen so unentschieden ausführt.
Dass es auch anders geht, hat vor einigen Jahren Arno Geiger mit "Alles über Sally" bewiesen, einem Abenteuerroman über die beständige Liebe. Wenn keiner mehr träumt und Treue dem Zeitmangel entspringt, siegt der Pragmatismus auf ganzer Linie. Womöglich gibt es Ehen, die das überleben. Liebesromane überstehen das nicht.