Deutsche Gegenwartsliteratur:Wildwechsel

Gleich zwei Theaterautoren sind mit ihren Debütromanen für den Leipziger Buchpreis nominiert: Doch Nis-Momme Stockmann und Roland Schimmelpfennig überzeugen in ihrer neuen Rolle nicht ganz.

Von Christopher Schmidt

Völker schaut auf diese Stadt, wie hat sie sich verändert", heißt es in Roland Schimmelpfennigs Roman "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts". Und weiter: "Dieser Wolf ist ein Berliner." Seit die wilden Tiere den Wald verlassen und in das Weichbild der Metropolen vordringen, ist auch der alte Isegrim aus Märchen und Fabel nicht mehr das, was er mal war. Als zugezogener Neu-Berliner und also echter Hinterhof-Ironiker hat der Problemwolf offenbar gelernt, Ernst Reuter und John F. Kennedy in einem Atemzug zu zitieren.

Illiterat und bildungsfern ist er sowieso nur noch selten. Schon seit Längerem sind die Wildtiere nicht nur in die Städte, sondern auch in die Welt der Bücher eingezogen und fester Teil der erzählenden Kreativwirtschaft. Ein eigenes Subgenre der neuen Tier-Prosa bilden Vogelbücher. Ob Leierschwanz, Habicht oder Krähe - in Sachen Lebenshilfe lässt sich die Literatur gerne von den komischsten Vögeln unter die Fittiche nehmen.

Frisch ausgewilderte Neulinge sind dem Betrieb stets willkommen

Auch die Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse zeigt sich in diesem Jahr von ihrer tierlieben Seite und hat gleich zwei scheue Waldbewohner, die buchstäblich oder auch nur metaphorisch Roman-Protagonisten sind, ins Rampenlicht ihrer Nominierungen gestellt. Ob sich der Wolf, der bei Roland Schimmelpfennig in Berlin einfällt, und "Der Fuchs" - so heißt das Buch von Nis-Momme Stockmann - in den Streichelzoo der Epiker eingemeinden lassen, wird sich am Donnerstag zeigen, wenn der Preisträger bekannt gegeben wird. Beide Romane stammen, und das ist eine weitere Gemeinsamkeit, von Autoren, die als Dramatiker bekannt, als Romanciers jedoch frisch ausgewilderte Debütanten ohne Stallgeruch sind und sich nun in einem ungewohnten Habitat bewegen.

Literatur-Beilage

Namentlich der Fuchs steht ja seit einiger Zeit unter besonderem literarischen Artenschutz und hat den anderen Fabelwesen nicht nur die Gans, sondern die Schau gestohlen. In den jüngsten Romanen von Lutz Seiler und Annika Scheffel, Sandra Gugić oder Christine Wunnicke spielt er eine etwas undurchsichtige Rolle als Rätselfigur und Wappentier verwirrter Jugendlicher mit räudiger Seele.

Was immer die Gründe sein mögen für die derzeitige Treibjagd der Literatur auf den Fuchs - klar ist, dass er einige Eigenschaften verkörpert, die junge Autoren heute mitbringen müssen, um auf freier Wildbahn zu bestehen: schlaue Witterung bei der Selbstvermarktung, gepaart mit einem leicht tollwütigen Prosastil, dem Wahrzeichen romantischer Exzentrik. Und natürlich waren Füchse als geborene Tunnelgräber und Höhlenbauer immer schon Netzwerker und irgendwie Underground, auch wenn sich das unterirdische Labyrinth in Nis-Momme Stockmanns Roman als schwer paranoides Wahnsystem herausstellt.

Stockmanns Fuchs heißt mit bürgerlichem Namen Finn Schliemann und ist anders als sein berühmter Namensvetter ein Archäologe, bei dem sich der Wirkungskreis auf die eigene Herkunftswelt beschränkt, deren scheinbar festen Boden er mit dem Spaten einer überbordenden Fantasie untergräbt. Diese Herkunftswelt ist ein kleines Nest an der Nordseeküste, wo der zehnjährige Finn Anfang der Neunzigerjahre unter nicht ganz einfachen Umständen heranwächst. Thule, wie die Insel aus der Sage, heißt der Ort, unter dessen provinzieller Enge und stumpfsinnigen Bewohnern der Ich-Erzähler leidet, womit Stockmann den Schauplatz seines Romans gleich mal mythologisch auflädt.

Deutsche Gegenwartsliteratur: Nis-Momme Stockmann: Der Fuchs. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 720 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.

Nis-Momme Stockmann: Der Fuchs. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 720 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.

Eine Gleichgesinnte findet Finn einzig in Katja, einem Mädchen, das ein paar Jahre älter ist als er. Für die einen ist sie völlig verstrahlt mit ihren wilden Theorien über eine angebliche Weltverschwörung, deren geheime Machtzentrale sich direkt unter der Heimatscholle befinden soll. Finn aber lässt sich anfixen von ihren Prophezeiungen und wird zum Mitstreiter im heiligen Krieg gegen die Mächte der Finsternis.

Denn plötzlich scheint alles einen Sinn zu ergeben: die mysteriösen Todesfälle in der Gegend, die abgetrennten und mit einem rätselhaften Symbol gezeichneten Gliedmaßen der Leichen - auch Finns Vater fehlte eine Hand, als man ihn tot am Strand fand. Hinterlassen hat er seinem Sohn eine alte Agfamatic-Kamera. Der Fotoapparat taugt jedoch eher als Illusionsmaschine und Kristallkugel denn als Erkenntnisinstrument, genauso wie das Fernglas, das gerade in dem Moment einen Sprung bekommt, als die Jungs einen abgehackten Arm auf einer Wiese entdecken und es vor Schreck fallen lassen.

Die Flutkatastrophe als verdientes Strafgericht? Ein schwieriger Topos

Aber was haben die Kinder tatsächlich gesehen in dieser Szene, in der Stockmann David Lynchs "Blue Velvet" und Antonionis "Blow Up" miteinander kurzschließt? Irgendwann verliert Finn vollends den Bezug zur Wirklichkeit und schießt einem der Baschi-Brüder, so heißt die örtliche Jugend-Gang, mit einer Gaspistole ein Auge aus, als wäre das nur das nächste Level in einem Ego-Shooter-Spiel. Die Jugendfürsorge tritt auf den Plan, Katja landet in der Psychiatrie, Finn wird mit Psychopharmaka heruntergedimmt.

"Der Fuchs" erzählt von Unordnung und frühem Leid, von der ersten Liebe, die im Verrat endet, und vom Versuch einer Flucht aus der Realität. Doch Stockmann räumt in diesem mehr als 700 Seiten dicken Buch den Hirngespinsten seines Alter Ego entschieden zu viel Raum ein. Dorfmythologie und nordisches Sagengut, Science-Fiction-, Splatter- und Thriller-Anleihen verklebt er mit Kindheitserinnerungen zu einem deliranten Fließtext.

Zu allem Überfluss hat er eine zweite Zeit- und Erzählebene eingezogen. Der mittlerweile erwachsene Finn treibt auf einem Boot durch sein überschwemmtes Dorf - nicht ein Komplott, sondern der Klimawandel hat es unbewohnbar gemacht. Der Ich-Erzähler begreift die Katastrophe jedoch als verdientes Strafgericht, und das ist eine Reinheitsfantasie, die man durchaus problematisch finden kann.

Deutsche Gegenwartsliteratur: Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 256 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 18,99 Euro.

Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 256 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 18,99 Euro.

Mindestens so problematisch wie diese Sehnsucht nach Teilhabe an einer großen Erzählung, und sei sie auch apokalyptisch, aber ist, dass die doppelte Erzählperspektive dazu dient, die Nussschale der Rahmenhandlung mit einem Overload an weiteren, in Spaltenform gegliederten kapitalismuskritischen sowie pop- und postmodernetheoretischen Exkursen zu überfrachten. Selbst der babylonische Ursprungsmythos wird wahrhaft erschöpfend paraphrasiert. Das meiste von diesem kruden Kraut kann man in der Pfeife rauchen, am besten wohl in der Haschpfeife.

Insgesamt wirkt dieser rauschhafte Livestream aus dem Kopf des Protagonisten wie Rohmaterial, das dringend einer Schnittfassung in Gestalt eines Lektorats bedurft hätte. Nicht nur, weil Stockmann jeden Gedanken restfrei ausbuchstabiert, sondern auch, weil sich Passagen von großer Sprachkraft und Poesie abwechseln mit steilem Dramaturgen-Jargon, Stilblüten, schiefen Bildern und echten Ausdrucksfehlern wie "Freche" statt Frechheit, "luken" statt lugen, "gart" statt gärt oder "heer" statt hehr. "Der Fuchs" ist ein Fall von literarischem Deichbruch, der dazu führt, dass die Assoziationen ungehindert ausufern. "Hirnfick" nennt Finns Kumpel im Buch die gesammelten Verquastheiten solcher norddeutschen Seelenlandschaftsmalerei. Dort oben sagt man dazu einfach: Spökenkiekerei.

Leseproben

Einen Auszug aus Roland Schimmelpfennigs "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts" stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Einen Auszug aus Nis-Momme Stockmanns "Der Fuchs" stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Ganz anders temperiert ist der Erstlingsroman von Stockmanns Dramatiker-Kollegen Roland Schimmelpfennig, nämlich heruntergekühlt auf Minusgrade. Während Stockmann heiß läuft in der Endlosschleife, schreibt hier ein Eisheiliger in gefriergetrockneten Sätzen. Klaustrophobie statt Hypertrophie, Überkontrolliertheit statt narrativer Entgrenzung.

Ein Wolf ist in Berlin, und Berlin ist dem Menschen selbst schon ein Wolf

Schon der chronikalische Titel "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts" deutet an, worum es Schimmelpfennig geht, um ein modernes Wintermärchen aus der Großstadt - und die meteorologische Januarkälte liefert zugleich den sozialen Befund: Es herrscht Permafrost unter den Menschen. Der Wolf, der sich in Berlin herumtreibt und mit kalten Augen auf die Dinge blickt, ist das Leittier der Romanfiguren, deren Wege sich zufällig kreuzen.

Da gibt es das junge Ausreißerpärchen aus Brandenburg, das in der Stadt das Einzige verliert, was ihm Halt gab, die Liebe. Da sind die Eltern, die nach ihnen suchen, und da ist der Saisonarbeiter aus Polen, der auf dem Bau jobbt, und seine Freundin, die in Berlin putzen geht und schwanger wird von einer Zufallsbekanntschaft aus einem Club. Und da ist der Kioskinhaber, der besessen ist von der Idee, er müsse den Wolf jagen. Von ihnen allen erzählt Schimmelpfennig in episodischen Shortcuts, die ein eiskristallklares Kaleidoskop der Gegenwart ergeben sollen.

Die Künstlerin dieser Ausgabe

Die Illustrationen in unserer Literaturbeilage stammen von Daniela Wiesemann. Die Grafikdesignerin, Jahrgang 1980, hat unter anderem für die Magazine Stern, Nido, Focus und die Münchner Straßenzeitung Biss sowie Studio Umlaut und die Agentur Herburg Weiland gearbeitet. Nach der Geburt ihres ersten Kindes entstand "Hildecard", ein Angebot zur typografischen Namensgestaltung. Daniela Wiesemann lebt im Münchner Westen.

Doch die Geschichten lassen einen so kalt wie nur je ein Wintermorgen. Zu gemacht wirkt der monoton lakonische, bis auf den Knochen abgenagte Ton dieser Eiskonfekt-Prosa mit ihrem Hauptsatz-Manierismus. Die Distanziertheit schlägt um in einen Kitsch der Härte, weil sich die thematische Kälte in der Sprache verdoppelt. Überdeutlich ist die Absicht spürbar, quer durch die Milieus eine soziologische Wetterkarte Deutschlands zu zeichnen - auch Schimmelpfennigs Theaterstücke bleiben ja gelegentlich allzu vordergründig.

Auf ihre je eigene Weise sind beide Bücher, das Nis-Momme Stockmanns und das von Roland Schimmelpfennig, völlig überinszeniert, Roman gewordenes Regietheater sozusagen, das der Kraft der Geschichten misstraut. In Leipzig kommen sie nun auf die große Bühne - und in diesem Fall ist das ein Ort, an dem Fuchs und Wolf sich gute Nacht sagen.

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