Deutsche Gegenwartsliteratur:Süßer Vogel Jugend

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Liebe und Politik in Zeiten der Maueröffnung: Julia Schochs vielstimmer Roman "Schöne Seelen und Komplizen" verknüpft die Erinnerung an die späten Jahre der DDR mit der Gegenwart.

Von Hubert Winkels

Literarische Chroniken des Lebens in der DDR gibt es viele und gute. Die meisten sind in einigem Abstand zum Ende des Staates entstanden. Von Ingo Schulze über Uwe Tellkamp bis Eugen Ruge oder Uwe Kolbe. Ihre Autoren sind in die DDR "hineingeboren", waren ihr skeptisch bis feindselig gesinnt und versuchen ohne Eifer und Zorn, das Leben unter den Bedingungen der Diktatur zu erfassen. Mit Komik, Melancholie oder analytischer Schärfe, manchmal nachsichtiger, manchmal etwas bitter.

Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren und seit der Kindheit in Potsdam lebend, gehört nicht ganz in diese Reihe, obwohl ihre Erzählungen und Romane durchweg von Bedrohungen und Verlusterfahrungen Ostdeutscher handeln. Ihre Helden sind allesamt in existenzielle Situationen gestellt, sie sind einsam und idiosynkratisch. Auch unter den totalitären Lebensbedingungen eines säkularen Staates erleben sie eine metaphysische Erschütterung, für die sie keine Worte haben, und die auch der Erzähler eher in Stimmung, Beleuchtung, Langsamkeit und Abseitigkeit erfasst. Gute, traurige, fast meditative Stücke sind das, kalt und konzentriert auf wenige Elemente. Der Roman "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" von 2009 ist hier vorbildlich.

Julia Schochs neuer Roman "Schöne Seelen und Komplizen" ist dem noch nah, andererseits aber doch etwas ganz anderes. Er ist viel größer und kaleidoskopisch gedacht, erzählt von Dutzenden Personen, aus siebzehn verschiedenen Jugendperspektiven im ersten Teil über die Potsdamer Schulerfahrungen von 1989 bis 1992, und aus fast noch einmal so vielen Erwachsenenperspektiven fünfundzwanzig Jahre später im zweiten Teil. Er verkoppelt die Einzelerzählungen über Sehnsucht, Liebe, Angst, Verrat und das über ein Vierteljahrhundert. Allein diese vielen Fäden zusammenzuhalten und auf kleinem Raum zu verknüpfen, ist eine Meisterleistung. Eigentlich ist der Roman viel umfangreicher, als es seine dreihundert Seiten anzeigen.

Auf der Suche nach den Spuren einer verschwundenen Zeit: die Schriftstellerin Julia Schoch. (Foto: Regina Schmeken)

Sein rätselhafter Titel stammt aus Jean-Paul Sartres Theaterstück "Die Fliegen". Im ersten von insgesamt zweiundvierzig Kapiteln, die alle mit den Namen der jeweiligen Ich-Erzähler versehen sind, wird er zitiert. Lydia Gebauer gehört zu einer kleinen privaten Abordnung von Schülern der Potsdamer Käthe-Kollwitz-Oberschule, die einen bereits dreißigjährigen Regisseur besuchen, um mit ihm über die Inszenierung eines Theaterstücks zu sprechen. Es soll wohl "Farm der Tiere" sein, der Orwell-Roman, den jener Arno eigens dramatisiert hat. Kein Wort fällt über die Unmöglichkeit dieses Ansinnens im real existierenden Sozialismus/Animalismus.

Lydia hat ein ganz anderes Anliegen. Sie möchte viel lieber Sartres antikisierendes Freiheitsdrama "Die Fliegen" zur Aufführung bringen, ebenfalls am Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht. Wie viel Geschichte, Revolution und Verrat kommen ins Spiel, wie viel allegorisches Geschehen um Gewalt, Rache, Freiheit und Schuld tun sich auf! "Ich hatte das Gefühl, die anderen würden mich durchschauen, wenn ich Ihnen sofort mit diesem Stück komme. Dass Sie dann wüssten, dass ich nur wegen Tomas auf die Bühne wollte. Ich hatte mir vorgestellt, ich würde die Schwester spielen. Dann hätte ich in Tomasˋ Richtung schreien können: Geh, schöne Seele. Ich kann nichts anfangen mit schönen Seelen: einen Komplizen wollte ich."

"Jemand, der so küsst, lebt in einer anderen Welt, in einer höheren."

Soviel Geschichte, Kunst und Rebellion, um so zu enden, im Schrei nach Aufmerksamkeit. In einem Sehnsuchtsschrei mit schönen rätselhaften Worten, denn von Liebe wird man nicht ohne Einschränkung reden dürfen. Denn die Fünfzehnjährige, die Tomas beeindrucken möchte, mit dem sie was hat, lässt sich am Ende vom Lied von Freizeitregisseur Arno küssen. Arno ist eigentlich Heizer und geht bald darauf mit einer anderen. Lydia hat Tomas verraten und wird in ihren eigenen Augen selbst verraten. Heiliges Schicksal!, das ist der pubertäre Stoff, aus dem die großen Gefühle sind. Sozialismus hin, Kapitalismus her. Sartre hier, Orwell da. Das ist nur eine von Dutzenden gleichrangigen Episoden. Was ist es, das zählt?, fragt der Roman, nicht überhaupt und immer, sondern jetzt und hier? Er weigert sich, das Private dem Politischen und Geschichtlichen unterzuordnen. Im Gegenteil, er zieht seine Kapriolen, seine Verve und sein Raffinement aus dem Spiel mit eben dieser prekären Unterscheidung von privat und politisch.

Das kann man ganz gut an den weiteren Lydia-Gebauer-Stationen in diesem Episodenroman der vielen Namen und Geschichten sehen. Wir begegnen ihr wieder im Moment der Grenzöffnung in Berlin. Gleich zu Beginn des Kapitels heißt es: "Als ich Arno zusammen mit der Rothaarigen im Bus sah, zog sich mir alles zusammen." Es geschieht beim ersten Grenzübertritt überhaupt. Die Bedeutung dieses Moments erschließt sich vollständig in dem pathetischen Satz: "Jemand, der so küsst, lebt in einer anderen Welt, einer höheren." Es ist der Kuss und nicht der Mauerfall! Wenn Lydia die ganze Kette von Zufällen verdammt, die zum Anblick dieser verfluchten Liebschaft führt, dann ist unter der Trabipanne, einem Telefonat, einer folgenden Busfahrt usw. eben auch die Grenzöffnung. Ein kleines Ärgernis unter anderen.

Julia Schoch: Schöne Seelen und Komplizen. Roman. Piper Verlag, München 2018. 315 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro. (Foto: N/A)

Den Episoden aus den 89er- bis 92er-Jahren korrespondieren im zweiten Teil Geschichten von "heute", fünfundzwanzig Jahre später, 2015. Lydia ist jetzt mit dem früheren Alphatier der Kollwitz-Schule, Wolf Rutschky, verheiratet, einem Architekten. Sie sind in Paris, um ihre Ehekrise zu kitten, sitzen im Bus zur Cinématèque und bekommen ganz am Rande etwas von einem Attentat mit. Es wird der Anschlag auf das Bataclan gewesen sein. Was so zusammengerafft wie überinszeniert wirkt, läuft im Roman ganz unterschwellig mit. Große Ereignisse und schwere Zeichen werden beiläufig eingeschliffen in den Alltag diverser Lebensläufe, sie werden dezentriert. Und dennoch bestimmen sie hintergründig die Entwicklungen.

Hier herrscht eine Sehnsucht nach den Sehnsüchten der frühen Jahre

Da der Roman in der Ich-Form, im zweiten Teil sogar in Form persönlicher, weit zurückblickender Rechenschaftsberichte verfasst ist, lesen wir immer nur subjektive Kompilationen und Reflexionen. Es fehlt das Zentrum. Was zählt, entzieht sich. Es ist immer im Begriff zu verschwinden. Die Erzählungen folgen erinnernd den Einschlägen der Zeit, die sich als Schicksal darbieten. Dabei überlagern sich große Geschichte und die unscheinbaren Spuren des Normalen. In den späteren Geschichten herrscht eine Sehnsucht nach den Sehnsüchten der frühen Jahre. Als ob das Leben immer dort wäre, wo der Erzählende gerade nicht ist. Die Berichte des seltsamen, autistisch wirkenden Außenseiters Bodo Stamm bringen es auf den Punkt. Er erzählt schließlich post mortem von seinen Versuchen, das Leben zu archivieren: "Seit meiner Entkörperung sind all diese Dinge nur noch Fundstücke ohne Archiv (schiere Materialität), die als Spuren einer verschwundenen Zeit durch den unendlichen Raum der Gegenwart treiben."

Eine Ahnung von diesem Verschwinden - der Zukunft von allem, was ist - zieht sich durch sämtliche Erinnerungsstücke. Die ostdeutsche Herkunft ist darin ebenso gelöst wie die Gegenwart mit all ihren Krisen in der Mitte des Lebens. Dieses Gefühl zu vermitteln in einem ganz und gar anschaulichen, ja szenischen Schreiben, ist die Kunst Julia Schochs. Und dies in Dutzenden deutlich unterschiedenen Figurenreden zu tun, eine ganz besondere.

© SZ vom 16.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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