Süddeutsche Zeitung

Deutsche Gegenwartsliteratur:Normal ist das nicht

Wahnsinn ist nur eine Strategie, um mit dem Chaos in der Welt fertigzuwerden. Davon erzählt Clemens J. Setz in seinem Band "Der Trost runder Dinge".

Von Birthe Mühlhoff

Die Geschichten in "Der Trost runder Dinge" sind so schön und alltäglich wie der Titel selbst. Zwanzig Erzählungen, die in der österreichischen Gegenwart und im überschaubar Urbanen einer Stadt wie Graz spielen, in der der Autor Clemens J. Setz aufgewachsen ist und immer noch lebt. Wiederkehrende Motive darin sind, neben dem tröstend Runden - Obst zum Beispiel -, Butterbrote, die aus Papier ausgewickelt werden, Handschuhe auf Gehwegen. "Jeff" ist mal der Name eines Hundes, mal der eines Katers und in den gut eingerichteten Wohnungen stehen "wunderlich gebogene Leuchten". Vom Gewöhnlichen geht eine Faszination aus. Schlaflosigkeit spielt eine Rolle und psychologische Marotten, die mal klinische Ausmaße annehmen, mal bloß Eigenheiten sind, gerade noch an der Grenze des Normalen. Was von außen betrachtet wie Irrsinn wirkt, stellt für die betroffene Person womöglich eine Strategie dar, sich über einen noch größeren Schmerz hinwegzubringen.

In der Erzählung "Das Schulfoto" versucht eine Schuldirektorin, Eltern davon zu überzeugen, ein Klassenfoto zu erwerben. Herr Preissner, Vater eines Kindes, hatte es bestellt, will es nun aber - wie viele andere Eltern - doch nicht haben. Denn auf dem Klassenfoto ist Daniel zu sehen, ein behindertes Kind. Es wird nicht näher beschrieben, um welche Art Einschränkung es sich handelt, nur dass das Kind von einem Gerät gehalten wird, in dem es Herrn Preissner zufolge aussieht wie eine Steckdose. Die Angelegenheit ist dem Mann unangenehm, er ist ein höflicher Mensch. Als er hereinkommt, hält er einen Regenschirm wie einen Strauß Blumen vor sich. Die Direktorin ist konsterniert von der Ablehnung der Eltern: "Dabei wussten Sie doch, dass der Daniel in dem Bild sein würde." Und Daniel interagiere ja: "Das ist alles, worauf es ankommt. Man kann mit ihm arbeiten. Er nimmt am Leben teil, auf seine Weise." - "Das tut ein Hydrant auch", sagt Herr Preissner. Es ist keine moralisierende, sondern eine nachdenkliche und bewegende Gesprächssituation. Man verabschiedet sich danach in einem herzlichen, höflichen und unterkühlten Zwischenton.

In einer weiteren Erzählung geht es um einen Pflegefall. Annamaria lädt sich einen männlichen Prostituierten nach Hause ein und bittet diesen Chris, im Zimmer ihres Sohnes mit ihr Sex zu haben, der seit einem Unfall im Koma liegt. Sie bietet sämtliche Überzeugungskräfte auf - und natürlich wirkt sie dabei, als hätte sie einen relativ merkwürdigen Fetisch. Chris will es nicht machen: "Er seufzte auf diese männliche, cowboyartige Weise. Als wollte er sagen: Oh Mann, womit ich alles fertigwerden muss auf dieser Erde." Er kann es nicht, sagt er und ahnt nicht, dass Annamaria genau das hören will. Weil ihr Sohn dann für diesen einen Moment so wirkt, als würde er alles mitkriegen.

Ziemlich verschrobene, aber ausgeklügelte Strategien haben die Figuren dieser Erzählungen. Dabei entsteht das angenehme Gefühl, dass der Autor beim Schreiben so neugierig darauf war, wie man es beim Lesen ist: Was geht diesen Menschen im Kopf herum? Warum zum Teufel tun sie, was sie tun? Wie soll man als Gesunder mit Krankheit umgehen? Wer ist überhaupt gesund? Diese Fragen ziehen sich durch den Band, wenn auch nicht durch alle Erzählungen gleichermaßen. Klare Antworten werden nicht gegeben.

Clemens J. Setz beherrscht viele Formen. Zuletzt waren es ein tausendseitiger Roman, "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre", bereits sein vierter, ein Gedichtband, oder das schmale Buch "Bot. Gespräch ohne Autor", für das Setz einen Algorithmus Antworten aus seinen Notizbüchern heraussuchen ließ, die mal mehr, mal weniger adäquat Fragen seiner Lektorin Angelika Klammer beantworteten. Nach "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" (2011) ist "Der Trost runder Dinge" sein zweiter Erzählungsband, der zeigt: Kurzgeschichten stehen ihm am besten. Es ist für einen Autor wahrscheinlich nicht angenehm, wenn man seine Werke wie Kleidungsstücke behandelt. Aber es sieht so aus, als säßen Gedichte bei ihm zu eng. Und der Roman schlackert ein bisschen. Durch das Bot-Buch entstand ein wenig der Eindruck, jemand habe sich fest vorgenommen, jedes Jahr ein Buch herauszubringen.

Das Thema seiner Erzählungen war in gewisser Weise schon das seines letzten Romans, der auf seltsam eindringliche Weise den Alltag der jungen Krankenpflegerin Natalie in einem Behindertenheim schildert und den Umgang mit den Angehörigen der Bewohner, von denen sich einer als Stalker entpuppt. Da ergibt sich die Frage: Wie verhält sich körperliches zu psychischem Leid? Von Natalie selbst müsste man sagen, dass sie zwar alle Tassen im Schrank hat, aber nicht alle Henkel nach rechts. Es umgibt sie eine Einsamkeit, die sie nur durch übertriebenen Gebrauch sozialer Medien abmildern kann und indem sie Live-Übertragungen im Fernsehen ansieht.

Auch Angehörige haben aber nicht immer die Verantwortung. Manchmal sind es Kinder, wie Felix und Mike in der Erzählung "Geteiltes Leid", deren alleinerziehender Vater eine Angststörung hat. Würde er es schaffen, ihnen zu erklären, wie sich das anfühlt, denkt der Mann, dann würden sie ihn verstehen und könnten Rücksicht nehmen. "Aber dann fiel etwas vom Küchentisch, ein Löffel, und die Angst war zurück, unverändert und so schlimm wie noch nie."

Die Angst ist jedes Mal aufs Neue so schlimm wie nie. Gelindert wird sie nur durch Boxkämpfe im Fernsehen, den Anblick von Auberginen, Tomaten und Obst überhaupt. Das Innenleben dieses Mannes geht einem nah, und es ist auch verständlich, was in seinen Söhnen vorgeht, vielleicht in Kindern generell: Sie sind zu Recht irritiert von den Erwachsenen.

"Der Trost runder Dinge" ist eine Reise auf den synästhetischen Sonderplaneten von Clemens J. Setz. Man ahnt noch, dass es sich dabei um eine Erde handeln könnte: Auf dem Gehsteig liegt ein Wollhandschuh "in der Haltung eines angespülten Seesterns", während eine Krähe, die vorbeihüpft, "einem Achselzucken" gleicht. Setz stellt Vergleiche an, wie andere Leute Autoradios anstellen oder Streiche. So beiläufig wie jemand, der das, was er tut, unheimlich gerne und auf die selbstverständlichste Art macht. Der alles, was er in die Hand bekommt, gegen das Licht hält und zu dem Schluss kommt: "Die meisten Gegenstände, so glaubt man, haben Rückseiten, aber in Wahrheit trifft dies nur auf einen kleinen Ausschnitt der sichtbaren Welt zu." So verfährt Setz auch mit den Grafiken und Fotos, die in der Geschichte "Die Katze wohnt im Laland'schen Himmel" abgebildet sind. Darin findet ein Mann ein altes Fotoalbum, entdeckt auf der Rückseiten eines Schwarz-Weiß-Fotos eine Notiz und begibt sich auf die Suche nach den Abgebildeten.

Auf Twitter kann man Setz' Einfälle und Erlebnisse täglich mitverfolgen. Wenn sie unter politisierten und zynischen Tweets auftauchen, wirken seine absurden Beobachtungen fast wie das einzig Vernünftige. Womöglich kann einen die Wahrnehmungsintensität in seinen Erzählungen etwas erschlagen, das aber auf eine Weise, die einen später beschwingt nach Hause gehen lässt.

Wir sehen Menschen in einer Abflughalle auf ihren Flug warten, "ein jeder mit seinem Buch als Lenkrad". Oder Tauben, die hinter weit entfernten Häusern aufflattern, "lautlose Trümmer einer kontrollierten Sprengung". Solche Metaphern haben auf die Dauer einen nicht zu unterschätzenden Effekt. Sogar die Beschreibung des Normalen erscheint im Zusammenhang damit auf einmal beachtenswert: "Ein Radfahrer hielt sich, ohne abzusteigen, an einer Ampelstange fest." In einer der Norm nicht ganz entsprechenden Normalität sieht Clemens J. Setz Menschenschicksale. Sie überlagern sich für einen Moment und zerfallen dann wieder zu neuen Mustern, Trost und Schmerz und über allem: Alltag. Ein rundum rundes Ding.

Clemens J. Setz: Der Trost runder Dinge. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 320 Seiten, 24 Euro.

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Quelle:
SZ vom 09.02.2019
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