Deutsche Gegenwartsliteratur:Mögen Indianer Rösti?

In seinem neuen Roman "Manitoba" schickt Linus Reichlin einen einigermaßen erfolglosen deutschen Schriftsteller auf Ahnensuche nach Nordamerika. Die Frage "War ich ein Indianer?" treibt ihn voran. Aber während er reist, läuft seine Zeit ab.

Von Ulrich Baron

Was, er kenne den Film "Thunderheart" nicht? Der Motelmanager Ned Cloud ist angesichts seines unbedarften Gesprächspartners verblüfft: "Was bis du denn für ein Indianer?" Tatsächlich ist der Ich-Erzähler in Linus Reichlins Roman "Manitoba" ein eher untypischer Indianer. Wie sein 1957 geborener Autor hat er als Schweizer Schriftsteller in Berlin gelebt - und erst jetzt Gelegenheit, nach seinem indianischen Urgroßvater zu forschen. Seit seiner Kindheit hatte ihn die Geschichte seiner Urgroßmutter begleitet, die als junge Witwe nach Amerika gegangen war, um Indianerkinder in einer Missionsschule zu unterrichten, und sich dann in einen Arapaho verliebt hatte, der später von einem eifersüchtigen Weißen ermordet wurde.

"War ich Indianer?", fragt sich Reichlins Erzähler. Während er auf der Suche nach den realen Vorlagen zu den Tagebuchaufzeichnungen der Ahnin durch die USA gen Norden reist, wird diese Frage immer bedrängender. Die Familiengeschichte aber wird immer fadenscheiniger, bis er schließlich aus einer Hütte, in der er dem Leben in der Wildnis hatte nahekommen wollen, vertrieben wird: "Wasichus get off!" lautet die Parole, die junge Indianer an deren Wand gesprayt haben: Weiße haut ab!

Und gleich der erste richtige Indianer, dem er begegnet war, jener Ned Cloud, hatte sich bei einem gemeinsamen nächtlichen Ausflug in die Prärie über seinen verlorenen Sohn beklagt. Der habe sich von seiner Herkunft losgesagt, sei jetzt Zahnarzt in Denver und gebe sich als Hawaiianer aus. Bier trinkend im Präriewind unterm Sternenhimmel betrachten die beiden den Balg einer Füchsin, der bisweilen gespenstisch belebt erscheint. Und dann sagt Cloud. "An dem Tag, an dem der Wind das Fell vom Ast reißt, werde ich sterben."

Solche Memento-Mori-Momente grundieren Reichlins Roman, dessen Held mit seinen Büchern zu wenig für seine Unsterblichkeit und kaum genug für die Altersversorgung getan hat. Angesichts der Ewigkeit aber ist es egal, ob man Arapaho oder Schweizer, ob man überhaupt war. Und wenn der Erzähler beim Frühstücken feststellt, Hash Browns seien "nichts anderes als Rösti", antwortet Ned Cloud, jetzt sei es ein amerikanisches Gericht.

In der großen Erzählung vom Untergang einer Kultur steckt eine kleine Vater-Sohn-Geschichte

"Auf einer Anhöhe stand ein Haus, hinter dessen Fenster das blaue Licht eines Fernsehers anzeigte, dass hier jemand seine kurze Zeit des Aufleuchtens auf bemitleidenswerte Weise vergeudete", heißt es einmal, und der Zusatz "Cloud und ich tranken wenigstens" deutet an, dass dieses Urteil nicht ganz nüchtern gefällt wurde. Und verstärkt den Verdacht, dass sich unter manch gewichtigem Gedanken ein Abgrund von Ironie auftut. Statt auf Erinnerungsorte oder zumindest auf deren Ruinen stößt der Erzähler auf gesichtslose Zweckbauten: "Das Band der Überlieferung war zerschnitten. Es setzte sich hier keine Überlieferung in veränderter Form fort, sondern die ursprüngliche war erloschen." Die Wörter, die Namen auf Ortsschildern sind hier offenkundig die einzigen Denkmäler.

Sie sind Denkmäler einer Geschichte, die erloschen, erstickt, überwältigt worden ist. Nicht nur durch Mord und Totschlag, Feuer und Seuchen, sondern allein schon durch die wachsende Menge von Einwandererkindern, welche die indianische Kultur verdrängt haben. Und während der Erzähler sich seinen Urgroßvater als einen einst stolzen, aber gedemütigten "Krieger und Jäger am Ende seiner Epoche" imaginiert, ist längst schon klar, dass auch er selbst ein Geschlagener ist: Ein geschiedener Mann, nicht mehr jung, herzkrank und mit einem Sohn, der weder Zahnarzt noch Hawaiianer geworden ist, sondern etwas, was der Vater selbst nicht werden konnte, ein erfolgreicher Schriftsteller.

In die Suche nach alten Wurzeln und neuem Stoff platzt die Nachricht, dass dieser Sohn für sein "fulminantes Debüt" den Kranichsteiner Literaturpreis erhalten wird. Natürlich kann es aus dessen Sicht nicht angehen, dass sein Vater bei der Preisverleihung fehlt und in der Stunde seines Triumphes in der Wildnis irgendwelchen Indianergeschichten nachgeht. So ist der Erzähler zur rechten Zeit im Berliner Literaturhaus anwesend. Nur steht er danach im strömenden Regen und wartet vergeblich darauf, "zur Feier im kleinen Kreis" abgeholt zu werden. Seine Zeit ist vorbei. Wie beim melancholischen Motelmanager Ned Cloud verbirgt sich unter der großen tragischen Geschichte vom Untergang einer ganzen Kultur auch eine Vater-Sohn-Geschichte. Statt einer "Überlieferung in veränderter Form" findet eine Verdrängung statt, so wie auf Bestenlisten Bestes aufs Beste folgt, ohne dass dabei Verbesserung und Entwicklung spürbar wäre.

Reichlins Roman kulminiert im apokalyptischen Bild einer brennenden Welt, gesehen aus der Perspektive eines Mannes, der nicht weiß ob er mit ihr untergehen oder sie überleben wird. Der Wunsch, Indianer zu werden, dem schon der wiederholt zitierte Franz Kafka, ein kurzes Prosastück gewidmet hat, führt auch bei Reichlin zum Verlust aller Gewissheiten. Selbst der Glaube, man könne schreibend und lesend gewinnen, was einem Welt und Leben versagen, ist hier erloschen.

Linus Reichlin: Manitoba. Roman. Galiani Berlin, Berlin 2016. 281 S., 17,99 Euro. E-Book 17,99 Euro.

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