Süddeutsche Zeitung

Deutsche Gegenwartsliteratur:Kopfleuchten am etruskischen Meer

Was sind "Ballastexistenzen"? Barbara Zoekes beunruhigend guter Wissenschaftsroman "Die Stunde der Spezialisten" zieht eine Linie von der Euthanasie der NS-Zeit zu den Visionen vom geklonten Menschen.

Von Helmut Böttiger

Dies ist ein sehr erstaunliches Buch, und deshalb ist es gut, zuerst gar nicht so sehr auf den Stoff und das Thema zu achten. Die Sprache ist klar, ohne Schnörkel. Es wird viel in Dialogen gesprochen, ansonsten gibt es knappe Situationsbeschreibungen und atmosphärische Verdichtungen. Man ist sofort mitten im Geschehen, aber erst allmählich werden die Beziehungen zwischen den Personen deutlicher. Die zeitgeschichtliche Dimension, die das Wichtigste und Zentrale an diesem Buch ist, stellt sich in ihrer ganzen Wucht nur langsam her. Im ersten Kapitel, das am längsten ist, werden die Figuren gleich plastisch, sie bekommen ihre eigene emotionale Welt und Unverwechselbarkeit, ohne dass es langer Erklärungen oder psychologischer Umkreisungen bedarf. Und das ist vielleicht das Verblüffendste, denn die Autorin ist Psychologin und hat das Fach als Privatdozentin an verschiedenen Universitäten gelehrt. Dieser Roman kommt nicht aus dem Literaturbetrieb. Aber woher er genau kommt, bleibt bis zum Schluss sein Geheimnis.

Die Hauptfigur Max Koenig ist ein Altertumsforscher, der in den dreißiger Jahren an den Universitäten Leipzig und Berlin lehrt, viel in Italien unterwegs war und dort auch seine Frau Fee kennengelernt hat. Eines Tages stürzt er schwer, und es verdichtet sich der Verdacht, dass auch er die Erbkrankheit hat, die er bei seinem Vater kopfschüttelnd erlebte - ein Nervenleiden, das seltene Huntingtonsche Syndrom, bei der der Körper die Kontrolle über seine Funktionen verliert.

Die Nazis wollen "lebensunwertes Leben" ausmerzen, das ist von vornherein klar. Jemand wie Max Koenig ist mit dem Ziel eines "gesunden Volkskörpers" nicht zu vereinbaren. Das Eigentümliche an Barbara Zoekes Roman ist dabei, dass inmitten dieser ausweglosen, barbarischen historischen Konstellation eine merkwürdig schwebende, poetisch-fremde Atmosphäre entsteht, die nichts relativiert und dennoch an etwas Menschliches gemahnt. Die Stationsschwester Rosemarie stellt dem Altertums-Professor zwei Personen zur Seite, die ihn unterstützen. Elfi ist ein hübsches, zauberhaftes Wesen, das manchmal "Traumdeutsch" spricht, und sie bildet ein entrücktes Paar mit Carl, einem ehemaligen Lehrer mit "Kopfleuchten". Er komponiert eine Litanei auf die Farbe "Schwarz" und wird wie Elfi als "schizophren" eingestuft. Da Max selbst nicht mehr schreiben kann, diktiert er diesem Carl seine Briefe, und er entwirft die Vision des "etruskischen Meers", an dem sie alle später wieder zusammenfinden werden - und wo der Roman schließlich in einem realistisch-nüchternen Ausblick auch wirklich endet.

Bei alldem liegen viele Klischees in der Luft, und überall könnten Abstürze ins Eindeutige und Kitschige lauern. Doch nichts davon ist in diesem Roman zu spüren. Im zweiten Teil wechselt abrupt die Perspektive: Jetzt erzählt der Chefarzt Dr. Friedel Lerbe, der in der Heilanstalt Bernburg an der Saale für die unauffällige Massentötung von "Ballastexistenzen", also für das Euthanasie-Programm der Nazis zuständig ist. In ihm verkörpert sich die monströse Normalität des deutschen Alltags und Berufslebens in den dreißiger Jahren, die gespenstische Spaltung zwischen der perfekt organisierten Form des Tötens und dem eigenen privaten Raum.

Barbara Zoekes Roman bleibt ganz nah am Geschehen. Nirgends wird tatsächlich ausgesprochen, dass es hier um eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Wissenschaft geht und um äußerst aktuelle Bezüge. "Unpolitische" Wissenschaft gibt es nicht, im Gegenteil - gerade diese Haltung ist am anfälligsten für ideologische Zurichtungen. Der durchaus menschlich wirkende und sinnlichen Genüssen gegenüber äußerst aufgeschlossene Friedel Lerbe ist ein Musterbeispiel.

Hier ist die "Berserkerwut der Deutschen" am Werk, von der Heinrich Heine sprach

Er bleibt ganz konsequent in seinem eigenen System und leistet zusammen mit seinen Vorgesetzten eine elaborierte, intelligente wissenschaftliche Arbeit. Die "Spezialisten" sind zum Ungeheuerlichsten in der Lage - dies zieht sich als Prophezeiung von Max Koenigs Doktorvater Gustaf Clampe zwischen den Zeilen durch den gesamten Roman, und das betrifft nicht nur die Nazis. Dass es eine Linie gibt zur Möglichkeit eines geklonten Menschen, zu Designer-Babies und computergestützten neuen Formen von "Menschenzucht", ist deutlich erkennbar. Dies ist nicht nur ein Buch über Euthanasie.

So unaufwendig die Sprache dieses Romans auf den ersten Blick wirkt, so kunstvoll verwoben sind die Motive und Bezüge. Es gibt eine nie zu konkret ausgeleuchtete italienische Ebene mit immer wieder aufblitzenden Sehnsüchten, es gibt scharf umrissene Szenen aus dem Nazi-Alltag, der als selbstverständliches Umfeld erfahren wird, es gibt genau recherchierte historische Details. Wie der Schauspieler Carl Raddatz einmal plötzlich im "Salon Kitty", einem Charlottenburger Bordell, ein nazikritisches Gedicht vorträgt und die beteiligten Diplomaten und Parteifunktionäre sich dabei nichts anmerken lassen, ist eine schräge, vieldeutige Momentaufnahme. Und dass Max Koenig und Fee ihre Hochzeitstage ausgerechnet um den 30. Januar 1933 herum im Hotel Adlon verbringen, vor dem Hintergrund des großen Fackelzugs der Nazis, wirft ein irritierend flackerndes Licht auf die zeitgeschichtlichen Konstellationen. Koenigs Förderer, der Ordinarius Clampe, zitiert einmal Heinrich Heine, der von der "Berserkerwut der Deutschen" sprach, und verbindet dies mit einem Satz des Oberberserkers der Nazis: "Unser Mitleid muss hygienisch orientiert sein, nicht philosophisch oder sentimental." Nach der Lektüre dieses Buches lesen sich auch aktuelle Universitäts-Curricula anders.

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Quelle:
SZ vom 10.10.2017
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