Süddeutsche Zeitung

Deutsche Gegenwartsliteratur:Knall und Fall

Der Rechtsstaat als Perpetuum mobile des Erzählens: In ihrem Roman "Justizpalast" schaut Petra Morsbach einer Münchner Richterin über die Schulter.

Von Hubert Winkels

Am Ende möchte man eine Petition an die bayrische Staatsregierung einreichen, doch bitte die Justiz dringend mit neuen Planstellen und Sachmitteln zu versorgen. Dort werde mit soviel Kenntnis, Hingabe, Menschlichkeit, mit Gesetzestreue und Selbstaufopferung am Ideal der Gerechtigkeit gearbeitet und das schlimme Wüten von Selbstsucht, Gier und Bosheit eingegrenzt, dass es der gesamten Gesellschaft nicht nur zum Nutzen ausschlägt, sondern dass es sie als weitgehend friedliche Bürgergesellschaft überhaupt erhält. Gerechtigkeit, positives Recht und kluge Menschlichkeit sind unsres Glückes Unterpfand. Diesen Affekt eines tiefen Aufatmens bewirkt der neue Roman von Petra Morsbach, "Justizpalast".

Er tut dies, indem er konkrete Geschichten aus der richterlichen Praxis erzählt, Dutzende Geschichten aus dem straf- und dem zivilrechtlichen Bereich, in dem es vor allem Institutionen, also Firmen, Stiftungen usw. sind, die der Selbstsucht frönen, den Konkurrenz- und den Vernichtungswillen kollektiv, anonymisiert und rechtlich schwer bewaffnet ausagieren. Es sind viele schmutzige, abgründige, weil menschliche Geschichten, die normalerweise nur die Rechtspraktiker zu Gesicht bekommen, jetzt aber, weil Petra Morsbach sich entschieden hat, dort hineinzugehen und genau hinzusehen, ja hinzulangen mit sachter, aber entschiedener Hand, auch wir Romanleser.

Natürlich ist die Literatur voll von Geschichten, oft ganzen Romanen und Theaterstücken, die sich auf Gerichtsprozesse beziehen. Die Kindsmörderin Margarete als Kern des "Faust", Kleists "Der zerbrochne Krug", Brechts Augsburger Kreidekreis, Ferdinand von Schirachs Erzählungen nach Strafprozessen. Doch Petra Morsbach macht es anders. Ihr Roman durchläuft wie in einem erweiterten Rechtsreferendariat Station um Station im juristischen Feld von der Staatsanwaltschaft über die amtsgerichtliche Strafjustiz zur landgerichtlichen Berufungs- oder Kartellkammer, die Gnadenabteilung, hoch bis zum Justizministerium und hinunter bis zum kleinen Versicherungsanwalt, der sich auf Tierhaftpflicht spezialisiert.

Hier wird das krude Gemisch aus Traum, Enttäuschung, Wahnsinn aus einem 'Fall' herausgezogen

Sie fördert Geschichten über Geschichten zutage aus einem schier unerschöpflichen Repertoire der Lügen und Hinterlisten und Gewalttaten, samt deren häufig ursächlichen Kehrseiten: den Traumatisierungen und Überforderungen und zufälligen Verstrickungen, der Chancenlosigkeit und schlichten Dummheit der Angeklagten und Beklagten. In sozialpsychologischem Realismus werden Bosheit und Gelegenheit, Charakterschwäche und Impulsivität und das ganze krude Gemisch aus Traum, Enttäuschung und Wahnsinn aus dem jeweiligen Fall herausgezogen .

Solche Häufung von Stürzen, die zu Fällen, auch zu Erzählfällen werden, liebt Petra Morsbach. Ihre Romane sind voll davon, am deutlichsten ihr "Opernroman" von 1998, in dem sie das Personal eines Musiktheaters in anekdotengespickten Porträts vorstellte. Und nun "Justizpalast", als ob sie nach Büchern wie "Geschichten mit Pferden" oder "Dichterliebe" gegrübelt hätte, in welchem gesellschaftlichen Segment sich die meisten Storys auf engem Erzählraum destillieren ließen. Im Gericht natürlich, und dieser Schauplatz hat zudem den Vorteil, dass die verhandelten Geschichten hier schon vordestilliert sind, sei es aus der Perspektive eines Opfers, Klägers, Anwalts oder Richters.

Das klingt so plausibel wie einfach. Doch der Weg in die Fülle ist voller Tücken. Die allgemeinste ist die Lieblosigkeit, die durch das Serielle, das Gleichförmige und Repetitive droht, überhaupt durch die Unterordnung der einzelnen Geschichte unter das allgemeine Gesetz. Nun liegt jedem Erzählvorgang eine Unterordnung unter allgemeine Gesichtspunkte zugrunde, von erzähltechnischen bis hin zu moralischen. Doch bei der Begegnung von justizförmigen und literarischen Repräsentationen kommt das Individuelle noch ganz anders in Bedrängnis, denn der Schematismus des Gesetzes ist das Gegenstück zum ästhetischen Ideal des Besonderen, der Plötzlichkeit, der Überwältigung, wie wir es zumindest seit der Romantik kennen. Der Anekdotenliebhaber Heinrich von Kleist hat diesen Konflikt gleich zur Grundfrage etlicher seiner Geschichten gemacht.

Petra Morsbach wählt einen anderen Weg, eine Art ästhetische Gerechtigkeit herzustellen. Sie bettet ihren geliehenen Bestand von Mitleid und Furcht hervorrufenden Erzählungen in eine Rahmengeschichte ein, die sie in einen menschlichen Raum einbettet, der beide umfasst, die Richtenden wie die Gerichteten. Kurzum, die Münchner Richterin Thirza Zorniger, die sanfte Heldin des Romans, ist beides zugleich, Teil des allzu menschlichen Zusammenhangs, von dem die Devianzen vor Gericht nur Sonderfälle sind, und das umfassende Medium, das allem Erzählten seinen Raum gibt.

Thirza Zorniger, die wir vom Kind bis zur alten Frau kennenlernen, und deren Lebensweg so geschickt verwoben wird mit den Justizfällen, dass wir zwischenzeitlich vergessen, ob wir in der Rahmen- oder der Binnenhandlung stecken. Die Heldin, deren Lebensgeschichte etwas weniger von Lieblosigkeit, Hass, Hochmut und Zurückweisungen versehrt ist als die der anderen, nutzt ihre privilegierte Position zur Empathie und Gerechtigkeit. Sie kann zuhören; die meist persönlich grausamen Fälle arbeiten in ihr weiter; sie gibt, so gut es geht, keine Seele verloren; sie liebt ihren spät im Leben kennengelernten Max; sie verliert ihren Max an Krankheit und Tod; sie verhärtet darüber nicht; sie lässt ihr Leid nicht von anderen bezahlen.

Die Person Thirza ist gut, weil sie ihre Schwächen reflektiert und zaudern kann. Sie taugt damit zu einer modernen demokratisch rechtsstaatlichen Allegorie der Justiz, die um ihre strukturelle Kontingenz weiß und um ihre historisch wandelbaren Fehler und Schwächen. Sie ist durch und durch skeptisch, auch am Ende eines Entscheidungsprozesses; und von Humor getragen, einem feinen Wissen um das Vergebliche all des unseligen Bemühungen. Als Skulptur würde Morsbachs Justizia, statt eine Augenbinde zu tragen, leise mit den Augen lächeln. Solcher auf den Rechtsraum bezogener Humor, getragen auch von der Lakonik der Erzählungen, und manchmal zur situativen Komik gesteigert, durchzieht den ganzen Roman.

Leseprobe

Es dauert etwa bis zur Hälfte, bis wir endlich eine längere zusammenhängendes Strecke des Lebensweges mit der erwachsenen Richterin mitgehen. Max, ein Mann unterhalb ihres Standes, ein kleiner Krauter als Anwalt, aber ein liebender Mann, tritt in Thirzas Leben. Sie lernt ihn kennen in exakt dem Augenblick, da sie sich eine kurze, aber brutale Abfuhr von ihrem zweifelhaften Jugendschwarm, dem Oberjuristen Alfred einhandelt. Auch für solche dramaturgischen Knalleffekte ist sich Petra Morsbach nicht zu schade,und von da ab lesen wir das lebensgeschichtliche Unterfutter der Entscheiderin immer mehr in der Entscheidung mit.

Nie verliert die Richterin die Frage nach dem Glück aus den Augen, auf die jede Tat eine Antwort ist

Wenn die Richterin ihre Einlassungen und Urteile bedenkt, verliert sie nie die Frage nach dem Glück aus den Augen, auf die jede Tat eine Antwort ist. Und ihre Autorin verknüpft gelegentlich die lapidare Fallschilderung mit kleinen philosophischen und literarischen Brocken, die ihr vom Bücherfreund und Glücksbringer Max zufallen, der ihr zum Einschlafen Klassisches vorliest. Eine literarische Leihgabe, die für mehr Tiefe und poetische Anmutung sorgen soll. Zwingend ist sie nicht.

Ein Problem bleibt trotz der geschickten Romandramaturgie ungelöst, dass nämlich trotz aller Empathie, lebenskluger Relativierung und skeptischen Draufschau das Stereotype der gerichtsnotorischen Fälle etwas ermüdet. Ihrem Erzählgesetz folgend, kann die Erzählerin nie über die Stränge schlagen, sich etwa im Motivbündel einer Tat völlig verlieren. Alles bleibt sozialpsychologisch, manchmal psychoanalytisch gut konditioniert. Und wir Leser verstehen so gut wie alles, fallen aber nicht wirklich tief hinein in einen Fall, auch nicht, wenn das Private zunimmt. Wir sind eben im Justizpalast.

Nur in einem ist man überwältigt, und das ist nicht wenig, in der konkreten Anschauung der Justiz selbst. Was für ein herrlich filigranes Gebilde, mit Verstand und Lebensklugheit angewandt, eine Lebensversicherung für uns alle in einer Zeit des grenzenlosen Eigennutzes! Petra Morsbach ist, man kann es kaum glauben, keine Juristin. Sie hat lediglich neun Jahre für ihren Roman recherchiert und bedankt sich an dessen Ende bei etwa fünfzig Juristen, darunter über dreißig Richtern verschiedener Instanzen der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit aus fünf Bundesländern. Ihnen ist der Roman gewidmet. Man glaubt, die Gründe gut zu verstehen.

Petra Morsbach: Justizpalast. Roman. Knaus Verlag, München 2017. 481 Seiten, 25 Euro. E-Book 18,99 Euro.

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Quelle:
SZ vom 06.09.2017
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