Süddeutsche Zeitung

Deutsche Gegenwartsliteratur:Heißzeit

Helene Bukowski erfindet in ihrem Debütorman "Milchzähne" eine Trutzgemeinschaft auf dem abgeschiedenen Lande.

Von Jutta Person

Bringen karge Landschaften auch karge Menschen hervor und mit ihnen karge Sprech- und Denkweisen? Wer, sagen wir, die Toskana mit Nordwestmecklenburg vergleicht, könnte versucht sein, psychogeografische Zusammenhänge zwischen eher üppigen und eher ruppigen Oberflächen herzustellen. Auf so einer stilistisch-geografischen Skala zwischen Lieblichkeit und Rauheit läge Helene Bukowskis Roman "Milchzähne" ganz klar am nicht lieblichen Pol, auch wenn gar nicht sicher ist, wo genau diese kunstvoll verknappte Mutter-Tochter-Geschichte spielt.

Das Wichtigste allerdings wird angedeutet: ein nördlicher Landstrich, der früher nebelverhangen war und jetzt unter großer Hitze leidet, nicht weit vom Meer entfernt, dünn besiedelt von Menschen, die Eggert und Pesolt heißen, Gösta und Len, Levaii und Nuuel. Es gibt trockene Kiefernwälder und Brombeerhecken, dazu kommen verrostete Pick-ups und überwachsene Plattenbauten - fertig ist die Dystopie. Wir befinden uns in einer kleinen, misstrauischen Zweckgemeinschaft, die sich aggressiv gegen alles von außen Kommende wehrt.

Mit sparsam dosierten Andeutungen entsteht eine unheimliche Atmosphäre

Skalde, die Ich-Erzählerin, lebt mit ihrer Mutter Edith in einem verkommenen Haus, das in besseren Zeiten einen Pool im Garten hatte; sie bauen Kartoffeln an und stellen Brennnesseljauche her, die sie mit den Nachbarn gegen Lebensmittel tauschen. Dieses Selbstversorgerdasein, das von einer rudimentären Tauschökonomie ergänzt wird, ist das Gegenteil romantischer Idylle - formal gesehen eine Robinsonade, bei der sich allerdings eine ganze Gegend absichtlich von der Außenwelt abgeschnitten hat. Mutter und Tochter gelten hier als Außenseiterinnen und sind bloß geduldet; noch dazu verstehen sich die beiden Frauen auch untereinander nicht.

Edith, eine der wenigen, die von anderswo kam, lebt in ihrer eigenen Welt und verhält sich seltsam abweisend; manchmal verkriecht sie sich in einen Schrank, der innen mit Fotos vom Meer tapeziert ist. Ihre vernachlässigte Tochter, die als Kind den Radius von Haus und Garten nie verlassen durfte, zimmert sich einen eigenen Kosmos zurecht.

Als dann ein fremdes Mädchen auftaucht und von Skalde ins Haus aufgenommen wird, verändert sich die enge Welt erneut - zunächst zum Schlechten. Die Nachbarn fühlen sich bedroht von dem "Wechselbalg", so nennen sie das Kind mit den roten Haaren, und verlangen seine Auslieferung. Edith, die sich anfangs gegen das Mädchen wehrt, schlägt vor, zu dritt zu flüchten. Es ist, als ob sie sich vage an ein früheres Leben erinnert und an die Möglichkeit, woanders neu anzufangen.

Spätestens hier beginnt die Identität der Ich-Erzählerin zu bröckeln. Einerseits fühlt sie sich der Landschaft zugehörig, andererseits treten die brutalen Mechanismen der Klaustro-Gemeinschaft zutage. "Milchzähne" heißt der Roman übrigens, weil mit ihrem Ausfallen die Ablösung von der Mutter beginnt - und weil ein Wechselbalg, so die Bewohner, die Milchzähne nicht verliert. Beim Rückfall in den Mythos haben Rothaarige und andere Außenseiter schlechte Karten.

"Ich werde nicht von hier weggehen, genauso wenig wie das Kind", hält Skalde der Mutter entgegen. "'Wusstest du, dass sich die andere Seite des Flusses nicht von dieser unterscheidet?', fragte sie und griff nach dem Lenkrad. ,Mich interessiert die andere Seite nicht', sagte ich."

Den rauen Ton, der zwischen Mutter und Tochter herrscht, treibt Helene Bukowski, Jahrgang 1993, nach und nach auf die Spitze. Und noch etwas gelingt ihr mit ihrem Debütroman: Mit sparsam dosierten Andeutungen, die nur gelegentlich etwas zu traumverloren geraten sind ("dunkel stand der Wald"), entsteht eine unwirkliche, unheimliche Atmosphäre. Das Wetter erweist sich als entscheidender Faktor: Dass die klimatischen Veränderungen ohne postatomares Gudrun-Pausewang-Tremolo festgehalten werden, verstärkt den Effekt.

Literarisch gesehen bewegt sich der Roman in gleich zwei klassischen Traditionen: Marlen Haushofers solipsistischer Weltabkapselungsroman "Die Wand" klingt ebenso an wie die amerikanischen Apokalyptiker, von Cormac McCarthys "Die Straße" bis zu Denis Johnsons "Fiskadoro". Gesellschaften bilden sich bei nicht näher beschriebenen Umwälzungen zu vorzivilisatorischen Trutzgemeinschaften zurück.

"Milchzähne" beginnt mit einem Motto von Joan Didion: "Don't you think people are formed by the landscape they grow up in?" - ob Menschen durch die Landschaft geprägt werden, in der sie aufwachsen. Diese zweischneidige Frage setzt der Roman mit seiner Geschichte der Verknappung in Szene. Zum Glück, könnte man sagen, sind Menschen keine Bäume und Landschaften kein Schicksal - man kann sie im Zweifel verlassen.

Helene Bukowski: Milchzähne. Roman. Blumenbar Verlag, Berlin 2019. 222 Seiten, 20 Euro.

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Quelle:
SZ vom 29.04.2019
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