Süddeutsche Zeitung

Deutsche Gegenwartsliteratur:Es schlackert der Norden

In ihrem zweiten Roman "Nach Onkalo" erzählt die in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsene Autorin Kerstin Preiwuss mit sprachlichem Feingefühl von einem einfachen Mann, der sein Glück in der Welt nicht findet.

Von Tobias Lehmkuhl

Wasser gibt es genug. Seen. Weite. Wetter, das man beobachten kann, reichlich. Und unheimlich viel Himmel. Öffnet man den Schlag, steigen die schnellen Tauben dorthin auf. Auch wenn nicht immer alle zurückkommen. An Frauen aber mangelt es im ostdeutschen Norden. Die holt zwar nicht der Habicht, die scheinen einfach so zu verschwinden. Nach Onkalo? Eher nicht. Eher nach Emsdetten oder Oberursel. Nur die Alten bleiben. Und dann holt sie doch der Habicht. Und plötzlich steht ein Matuschek ohne seine Mama da. Ein Haus hat er, einen Job als Wetterbeobachter auf dem nahen Flugplatz, aber keine Ahnung, was man tut, wenn die eigene Mutter stirbt. Der Nachbar Igor greift ihm unter die Arme. Regelt die Sache mit der Beerdigung und hilft dem vierzigjährigen Kind Matuschek über die Trauer hinweg. Geht mit ihm angeln und verschafft ihm einen Mutterersatz. Nein, besser als das. Er macht ihn mit Irina bekannt. Und bald schon bekocht sie Matuschek, ja teilt mit ihm, der nicht zu den attraktivsten seiner Art gehört, das Bett.

Glück ist also möglich, denkt man nach einem Viertel des zweiten Romans von Kerstin Preiwuß. Und weiß doch, dass es so nicht bleiben kann. Was "Nach Onkalo" dabei so lesenswert macht (Onkalo ist übrigens ein finnisches Atommüllendlager), ist das Gespür der Autorin für die richtige Distanz, die man einnehmen muss, um ihren Figuren möglichst nahe zu sein. Einmal ruft sie ihrem Protagonisten, als er sich selbst zu entgleiten droht, direkt etwas zu: "Matuschek, du liegst ja im Fieber! Spürst Arme und Beine nicht mehr, was schlackert da an dir rum?" Da ist es freilich schon weit gekommen mit diesem Antihelden. Da hat sich sein väterlicher Taubenzüchter-Freund Witt, einst Sicherheitschef im nahen, nie ans Netz gegangenen Atomkraftwerk, in seinem selbstgebauten Bunker das Leben genommen. Auch Igor ist nicht mehr, stattdessen zieht ein alerter junger Mann namens Lewandowski ins Nachbarhaus, schleppt Matuschek, der weder tanzen kann, noch eine Ahnung hat, wie man Frauen aufreißt, in die nächste Disco und erkundigt sich am Eingang, ob heute "Mutti- oder Fotzentag" sei. Und obwohl "Nach Onkalo" ein leiser Roman ist und seine Sprache ein feines Messinstrument für atmosphärische Veränderungen, wirken solche Grobheiten hier nicht schief.

Schief würde es wirken, verlöre man noch mehr Worte über diesen kurzen, dichten, durch und durch konzisen Roman.

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Quelle:
SZ vom 21.03.2017
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