Deutsche Gegenwartsliteratur:"Mit Dante kopfunter kopfoberst hinein ins Ungeheuerliche"

Deutsche Gegenwartsliteratur: "Im Labyrinth der Kreise" - bis zum 27. November zeigt die Ausstellung im Marbacher Literaturarchiv Sibylle Lewitscharoffs Dante-Werkstatt.

"Im Labyrinth der Kreise" - bis zum 27. November zeigt die Ausstellung im Marbacher Literaturarchiv Sibylle Lewitscharoffs Dante-Werkstatt.

(Foto: DLA-Marbach)

Sibylle Lewitscharoff lässt in ihrem Roman "Das Pfingstwunder" ein Geschwader von Dante-Philologen vom Boden abheben. Dabei gelingt ihr der Spagat zwischen Anspruch und Kurzweil.

Von Kristina Maidt-Zinke

Neben der Bibel ist Dantes "Commedia", von Boccaccio mit dem Attribut "Divina" geadelt und seither als "Göttliche Komödie" berühmt, das meistkommentierte Buch der Welt, aber gewiss nicht das meistgelesene. Im kulturstolzen Italien kommt natürlich kein Schüler daran vorbei, und Event-Lesungen wie die von Roberto Benigni halten das Werk im Herzen des Volkes lebendig. Andernorts bleiben die "Lecturae Dantis" auch dann, wenn sie öffentlich sind, ein Schmankerl für Eingeweihte.

Wer sich daranmacht, das Textgebirge aus eigener Kraft zu erklimmen, muss entweder von leidenschaftlicher Italienliebe oder von philologischem Forschergeist getrieben sein (oder von übermäßiger Fantreue zu Dan Browns "Inferno"). Es sei denn, er fühle sich zu der sprachmächtigen Jenseitsvision des Florentiners auf jene "magnetische" Weise hingezogen, die Albert von Schirnding einmal mit vergnügtem Snobismus so beschrieben hat: "Nach einem phönizischen, von Platon überlieferten Mythos sind ja der menschlichen Seele unterschiedliche Metalle beigegeben. Wird sie von Dante ergriffen, ist auf das edelste Metall, auf Gold, zu schließen."

Es braucht Unerschrockenheit, um das realistische Erzählen für das Wunderbare zu öffnen

Den versprengten Goldseelen der Neuzeit muss freilich erst einmal die Gelegenheit gegeben werden, sich von Dante ergreifen zu lassen. Eher selten geschieht ja, was Anfang des 19. Jahrhunderts dem siebzehnjährigen, bildungsfernen Schuhfabrikarbeiter August Springer aus Tuttlingen widerfuhr: In einer schweren Angst- und Sinnkrise stieß er beim Buchhändler auf ein kleines, graues Heft für zwanzig Pfennig, wanderte damit in den Wald und begann "Die Hölle" zu lesen - mit lebensumwälzenden Folgen. Aus dem Mann wurde ein bedeutender Wortführer der christlichen Gewerkschaftsbewegung, und seine später notierten Erinnerungen an den Erkenntnisweg, auf den er durch die "Göttliche Komödie" geriet, gehören zu den merkwürdigsten Zeugnissen der deutschsprachigen Dante-Rezeption.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag hier zur Verfügung.

August Springer entstammte dem schwäbisch-protestantischen Milieu, in dem auch Sibylle Lewitscharoff aufwuchs, in dem sie sich ihre predigttaugliche, zuweilen überschießende Wortgewalt und ihren empfindlichen Sinn für Gerechtigkeit erwarb. Sowie die Unerschrockenheit, die es heutzutage braucht, um ein hellwach realistisches und vernunftgeleitetes Erzählen durchlässig zu machen für Wunderbares, Transzendentes und Jenseitiges in schwankender Dosierung.

Ihr neues Werk, ein Dante-Roman, der nach den Gesetzen des Buchmarktes wohl zum 750. Geburtstag des Dichters im vorigen Jahr hätte erscheinen sollen, kommt gleich im Titel zur Sache: "Das Pfingstwunder". Hier muss das Unerklärliche, nach aufklärerischen Maßstäben also Ungehörige, nicht erst von Rezensenten und Exegeten aufgespürt und eingeordnet werden, sondern es präsentiert sich gleich frech als Thema. Durch Vorablesungen, ein Hörspiel und eine Ausstellung in Marbach ist das Publikum auf das Buch eingestimmt worden. Und da die Autorin aus dem Plot nie ein Geheimnis gemacht hat, war das wundersame "Vorkommnis" als solches keine Überraschung mehr: Die Erwartungsneugier durfte sich ganz auf die schlussgültige Form und die erzählerische Feinarbeit konzentrieren, die Lewitscharoff dem Mirakel angedeihen ließ.

34 Dantisten aus verschiedenen Ländern und Kontinenten sind zusammengekommen

Und so geht die Geschichte: Im Jahr 2013 findet in Rom, im prächtigen Saal der Malteser auf dem Aventin, ein Dante-Kongress statt. 34 Dantisten aus verschiedenen Ländern und Kontinenten sind zusammengekommen, um die "Canti" oder Gesänge der "Commedia" nacheinander durchzugehen und Forschungsergebnisse auszutauschen. Am Ende, als die Glocken des Petersdoms das Pfingstfest einläuten, ereignet sich das Unerhörte: Die Wissenschaftler verlieren auf das Wunderlichste die Contenance und beginnen in Zungen zu reden, ein postbabylonischer Sprachrausch euphorisiert sie gleich einer Droge und trägt sie auf den Gipfel der Ausgelassenheit, bis sich einer nach dem anderen von den Fensterbrettern des Maltesersaals in die Lüfte erhebt und davonfliegt, in unbekannte, vielleicht paradiesische Gefilde.

Leichtfüßige Einführung in Dantes Opus magnum

Drei Leute vom Personal und ein Jack-Russell-Terrier entschweben mit ihnen. Keiner von ihnen taucht je wieder auf; die Polizei steht vor einem Rätsel. Einer jedoch, ein nicht mehr ganz junger Frankfurter Romanist und Mit-Organisator der Veranstaltung, ist aus unerfindlichen Gründen auf seinem roten Samtstuhl hocken geblieben. Er, der Verschmähte, sieht sich als Träger einer Höllen- und Unglückszahl: Dantes "Inferno" hat 34 Gesänge, "Purgatorio" und "Paradiso" je 33, was der Anzahl der Abgehobenen entspricht.

Adam Elsheimer verdanken wir die erste fernrohrbasierte Darstellung des Nachthimmels

Als einziger Augenzeuge übernimmt Nummer vierunddreißig, nach Frankfurt zurückgekehrt, die Rolle des Berichterstatters, in einem labilen, aber mitteilsamen Zustand zwischen Verwirrung und heiligem Schauder, Beleidigtsein und Selbstironie. Ursprünglich sollte dieser Erzähler von Richard Ellwanger verkörpert werden, dem Ermittler aus Lewitscharoffs Krimi-Experiment "Killmousky". Jetzt heißt er Gottlieb Elsheimer, was viel besser passt: Der Name Gottlieb erklärt sich selbst, und Adam Elsheimer war der aus Frankfurt stammende, in Rom verstorbene Barockmaler, dem wir die erste fernrohrbasierte Darstellung des Nachthimmels verdanken - seinerzeit ein wahres Wunder.

Deutsche Gegenwartsliteratur: Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 350 Seiten, 24 Euro.

Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 350 Seiten, 24 Euro.

Im Übrigen ist der Chronist ein Paradebeispiel dafür, wie man eigenen Lebensstoff nonchalant in eine Romanhandlung einbauen kann. Elsheimer hat einiges mit der Autorin gemeinsam: das Alter (ungefähr), die Jugend in Stuttgart, die politisch und auch sonst tumultreichen frühen Jahre, die genussfreudige Gelehrsamkeit, den Hang zur Pedanterie und den Zorn über die katastrophalen Zustände in der Welt. Hingegen wohl nicht die Schuhgröße 46, die aus der Pubertät herübergeretteten Glaubenszweifel und die Skepsis gegenüber allem, was nicht mit knochenhartem Realismus zu erfassen ist.

Aber diese Einstellung ist durch das römische "Vorkommnis" so gründlich erschüttert worden, dass er vorsichtig bekennen kann: "Das Fakten!-Fakten!-Fakten!-Geschrei kommt mir inzwischen dümmer vor als die religiöse Haltung der Menschen, die an ein Leben nach dem Tod glauben." Damit macht er einen weiteren Schritt auf seine Erfinderin zu, die zum Totenreich zumindest literarisch eine enge Beziehung pflegt. Und in seiner Schilderung des denkwürdigen Kongresses, der Referenten und ihrer Dante-Deutung erkennen wir zugleich das Protokoll eines genuinen, wenn auch intellektuell abgefederten Ergriffenseins von der "Göttlichen Komödie", das wir Sibylle Lewitscharoff unterstellen dürfen.

Leichtfüßige wie substanzreiche Einführung in Dantes Opus magnum

Vor allem jedoch, und das überrascht am meisten, ist der Roman eine ebenso leichtfüßige wie substanzreiche Einführung in Dantes Opus magnum mitsamt seinen historischen und politischen, philosophischen und theologischen, literatur- und kunstgeschichtlichen Implikationen. Besser noch als im Philosophenroman "Blumenberg" gelingt Lewitscharoff hier der Spagat zwischen hohem und populärem Ton, Anspruch und Kurzweil. Welche Formprinzipien der "Commedia", außer der Anzahl von 34 Kapiteln, sich womöglich im Text verbergen, ließe sich spielerisch entdecken, ebenso wie ein ganzer Kosmos von gelehrten Verweisen.

Kaum weniger beeindruckt indes die elegante Wurschtigkeit, mit der die Autorin aus den Sphären der akademischen Dante-Aneignung immer wieder auf den Boden der heutigen Wirklichkeit zurückkehrt, mit Hilfe eines Erzählers, der in einer Frankfurter Pizzeria versackt wie ein Genazino-Held und von hochpoetischen Beschreibungen des römischen Erlebnisses ständig abschweift in seine individuelle Lebensbanalität. Denn auf diese Weise wird auch Unkundigen ein Weg gebahnt und gepolstert zu dem, worum es in Wahrheit geht:"Mit Dante kopfunter kopfoberst hinein ins Ungeheuerliche."

Diejenigen, die von der großen Seelenreise ohnehin schon infiziert und gepackt wurden, finden hier anregende Übersetzungsvergleiche, eine Verneigung vor Samuel Beckett, eine Fülle an Stoff für Dante-Debatten - und Sibylle Lewitscharoffs Sprachspiellust in Hochform. Sie dürfen sich nur nicht daran stören, dass das physikalische und heilsgeschichtliche Rätsel des Gruppen-Aufflugs am Schluss nicht erklärt wird. Wie sagte gleich Adam Elsheimer? "Ein Wunder kann man zwar beleuchten und befragen, aber nicht erfassen."

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