Deutsche Gegenwartsliteratur:Ein Tolpatsch in Westfalen

Von der Umbettung der Toten in das Reich der Imagination: Joachim Meyerhoff setzt seinen Bildungsroman auf kleinen Bühnen fort.

Von Kristina Maidt-Zinke

Das Phänomen Meyerhoff geht in die vierte Runde. Noch immer sind unter den Fans des 1967 in Homburg geborenen Schauspielers und Schriftstellers viele, die ihn nur von der Bühne kennen, und zweifellos noch mehr, die nur seine Bücher lesen. In den Hörbuch-Versionen findet seine Doppelbegabung ihren glücklichsten Ausdruck, abgesehen von den eher seltenen Gelegenheiten, bei denen man Joachim Meyerhoff als Vorleser oder Performer seiner eigenen Werke erleben kann.

Im neuen Band seines Roman-Kontinuums "Alle Toten fliegen hoch" jedoch emanzipiert sich der Erzähler zunehmend vom Selbstdarsteller. "Die Zweisamkeit der Einzelgänger" ist, mehr noch als der Vorgänger "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke", ein schlagender Beweis dafür, dass bei den in Mode gekommenen Memoir-Projekten nicht das "Was", sondern das "Wie" die Grenze zwischen Autobiografie und genuin literarischer Bewältigung des eigenen Lebensstoffes markiert.

"Zu große Zähne, zu große Augen, zu platte Nase. Sie gefiel mir sofort."

Dabei ist Meyerhoff, was den Stoff betrifft, gewiss privilegiert, wenn auch auf leicht makabre Weise. Seine Kindheit als Arztsohn auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik in Schleswig, verarbeitet im zweiten Band des Zyklus, bot vermutlich günstigere Bedingungen für die Entfaltung eines Erzähltalents und die Einübung in die tragikomischen Ambivalenzen des Lebens, als sie den meisten Autoren seiner Generation je zuteil wurden. Es waren frühe, schmerzhafte Verlusterfahrungen, Sterbefälle unter nahestehenden Menschen, die ihn dazu trieben, seine Toten in der mehrteiligen Bühnen-Performance hochfliegen zu lassen, aus der schließlich sein Debütroman "Amerika" über ein verwirrendes Austauschjahr in Wyoming hervorging. Und die bildungsbürgerlichen Münchner Großeltern, deren Repertoire an Ritualen und Marotten ihm die köstlichsten Passagen des dritten Bandes lieferten, muss man auch erst einmal sein Eigen genannt haben,um sie derart lebendig schildern zu können.

Litbeilage2017

Joachim Meyerhoff: Die Zweisamkeit der Einzelgänger. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 416 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Aber wie Meyerhoff den selbsttherapeutischen Aspekt seines Schreibens nicht verhehlt, so verheimlicht er auch nicht, dass er von seiner Erfindungsgabe ebenso unbefangen Gebrauch macht wie von seiner Erinnerung. Das könnte ihm, dem Beschreibungsvirtuosen, im Fall seines neuesten Werks vielleicht sogar Ärger ersparen, gab es doch mittlerweile einige Gerichtsverfahren, in denen verflossene Liebschaften von Schriftstellern gegen ihr allzu kenntliches Porträt in Büchern klagten. Und um die ersten heftigen Frauengeschichten des Autor-Helden geht es hier, wenngleich nicht exklusiv. Denn nicht einmal die literarischen Dauerbrenner Liebe und Sex können Meyerhoff von seinem eigentlichen Thema abbringen - von der Umbettung der Toten aus dem Vergessen in die Imagination und von der Suche nach der verlorenen Zeit.

Wir sind in den Neunzigerjahren angekommen; der Erzähler hat die Ausbildung an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule absolviert und ein Engagement am Stadttheater Bielefeld gefunden. Dort begegnet er Knall auf Fall der ersten großen Liebe seines Lebens, einer beängstigend intelligenten, aber auch physisch auffälligen Studentin namens Hanna: "Zu große Zähne, zu große Augen, zu platte Nase, verdammt kurze Haare. Sie gefiel mir sofort."

Hanna trägt Bundfaltenrock, weiße Bluse und altmodische Schuhe, redet druckreif und zeigt, neben einem kapriziösen Charme, deutliche Merkmale des Borderline-Syndroms. Der Held, dem es an innerer und äußerer Stabilität nach wie vor mangelt, muss zwangsläufig darauf fliegen. Die Annäherung der beiden Einzelgänger und der Verlauf ihrer dramengesättigten Beziehung gewinnt im typischen Meyerhoff-Ton zwischen Selbstironie, Melancholie und staunendem Weltfremdeln eine unwiderstehliche Dynamik.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag auf seiner Internetseite zur Verfügung.

Doch inzwischen hat der Jungmime, genervt vom Bielefelder Provinztheater, in Dortmund vorgesprochen, wo es zwar nicht weniger provinziell zugeht, aber immerhin anders. Er wird also eine Fernbeziehung führen, und nicht nur das: An seiner neuen Wirkungsstätte beginnt er eine heiße Affäre mit der unersättlich sexhungrigen Tänzerin Franka. Sie ist zwar "unfassbar schön", aber etwas knochig, sodass die Zweigleisigkeit alsbald in ein Gleisdreieck mündet: Gar nicht schön und nicht mehr jung, aber weich wie Puddingbrezeln und gnadenlos resolut ist Ilse, die Inhaberin einer aus der Zeit gefallenen Bäckerei, in der unser Held als Gehilfe angeheuert wird und eine dritte erotische Heimat findet.

Die physischen und logistischen Mühen dieser Jonglage (selbstredend wissen die Damen nichts voneinander) machen ihn abhängig von dem Fünfzigerjahre-Aufputschmittel "Halloo wach", das im Roman so oft vorkommt, dass man auch hier schon wieder juristische Komplikationen befürchten könnte. Der Leser leidet mit, erfreut sich aber vor allem an der boulevardesken Komik der Konstellation und an den bildkräftigen Schilderungen, die von unheilvollen Ahnungen grundiert sind.

Es versteht sich, dass die Sache nicht gut ausgeht. Einzig die Bäckerei bleibt dem Beziehungstolpatsch als Zuflucht erhalten, und in ihrem Gastgarten ereignet sich am Ende etwas, das man, würde man sich mit solchen Formulierungen nicht suspekt machen, eine spirituelle Erfahrung nennen müsste: Der Protagonist begegnet seinen versammelten Toten und entlässt sie aus dem Gefängnis seiner Trauer. Das ist aber nicht die einzige Wandlung, die ihm im Laufe dieses narrenhaft verkappten Bildungsromans widerfährt. Wenn er die skurrile Hilflosigkeit an den Kleinstadtbühnen der damaligen Zeit beschreibt, bizarre Erfahrungen mit einem selbstinszenierten Ratten-Stück oder ein Erweckungserlebnis beim Bochumer Gastspiel der Truppe Fura dels Baus, dient das eben nicht nur Slapstick-Effekten, sondern auch der Selbstverortung auf einem noch offenen Weg. Und die eingeschalteten Episoden aus der Jugendzeit sind nicht etwa dem Mangel an Stoff im Liebeschaos geschuldet, sondern fügen sich präzise in die Affektökonomie aus Rührung, Grauen und Gelächter, die diese suchende, tastende Lebenserzählung eines Theatermenschen etwa von der pathetischen Akribie des Norwegers Knausgård unterscheidet. Wir sind gespannt, wohin das noch führt.

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