Deutsche Gegenwartsliteratur:Ein Purzeltraum

Deutsche Gegenwartsliteratur: Anne Webers Erzählkunststück "Kirio" ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Anne Webers Erzählkunststück "Kirio" ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

(Foto: Isolde Ohlbaum/laif)

Kirio schlägt am liebsten Rad, spielt Flöte und wirft alles um. Anne Weber stellt in ihrem Schelmenroman die Welt auf den Kopf.

Von Joseph Hanimann

An dieser Stelle müsste sich der Rezensent eigentlich schon verabschieden, so wie es zuvor diverse Erzähler im Buch auch getan haben. Mit den üblichen Rezensionskategorien ist der Titelfigur dieses Romans nicht beizukommen. Sie hat kein Gesicht, keine Herkunft, ist die Güte in Person, ohne dies selber zu merken. Für die Figur müssten die Grammatik gesprengt und neue Fürwörter erfunden werden, denn in "er-sie-es" passe sie schwerlich hinein, warnt schon am Anfang jener, der sie wohl am besten kennt und immer dann erzählerisch einspringt, wenn die anderen Erzähler ausfallen.

Wie zum Beispiel die Erzählerin Nummer eins, die im ersten Kapitel des Buches noch schläft. Dafür hat sie auch allen Grund, denn sie hat den sprunghaften Kirio und sein für die anderen zugleich ermüdendes und glückbringendes Herumpurzeln in der Welt aus nächster Nähe erlebt. Sie ist nämlich seine Mutter.

So leichtfüßig wird selten erzählt in unserer bedeutungsschweren Zeit

Doch was besagt denn das nun wieder? Dass sie es war, die in einer Ausweich-Nische eines Autobahntunnels in Südfrankreich im kurzen Scheinwerferlicht der vorbeiflitzenden Autos den Kleinen die Schatten der Welt erblicken ließ? Kaum hatte sie den Siebenjährigen in der Klavierklasse des Konservatoriums von Saint-Paul-Trois-Châteaux eingeschrieben, sagte er, er wolle lieber Flöte lernen und war dann auch bald verschwunden. Lang hält dieser Kerl es bei keinem Erzähler aus.

Das gibt der Autorin Anne Weber alle Freiheiten, nach Lust und Laune mit den Erzählformen zu spielen. Ein so ein leichtfüßig daherkommendes Kabinettstück zwischen Kindermärchen, Schelmenroman, Lebensweisheitsgleichnis und Heiligenlegende ist uns in der eher bedeutungsschweren Romanliteratur unserer Jahre nicht mehr begegnet. Mit ihrer Geschichte aus dem Leben eines ins Wunderbare gespiegelten Taugenichts hat die Autorin ein kleines Zauberding geschaffen, das nun auf der Kandidatenliste für den Preis der Leipziger Buchmesse steht.

Mit Lebensplänen, Überzeugungen, Durchsetzungskraft, Zielstrebigkeit, überhaupt Zielen, ist diesem Wesen namens Kirio nicht zu kommen. Er trollt sich durch die Welt, am liebsten auf den Händen gehend, nimmt die Dinge, wie sie kommen, die Kälte, den Hunger und die Wanzen in der Höhle in der Ardèche, in der er eine Zeit lang lebt, wie das winzige Mansardenzimmer in Paris, wo er auf der Straße Flöte spielt: ein Stottern und Schluchzen, zugleich Lachen und Weinen. Einen Unterschied zwischen gut und schlecht kennt er nicht, alles ist, wie es ist. Aber in jedem, der mit ihm in Berührung kam, wirkt diese wie eine Glücksahnung weiter. Das ist etwas Besonderes selbst für den Schwermütigen namens Winter, der an einem Wintermorgen einen Schneeball an seinem linken Ohr vorbeizischen spürt, worauf unter den zur Arbeit eilenden Parisern sofort eine heitere kurze Schneeballschlacht ausbricht, bevor sie, den Schnee von den Mänteln und Hosenbeinen abklopfend, gleich weiter zum nächsten Metroeingang eilen.

Dies alles passiert, wie gesagt, ohne jede Intention. Schon Kirios Schullehrer hatte hinter dem immerfort den Unterricht störenden Jungen nichts Störrisches, Freches oder Renitentes bemerkt, sondern einfach eine Art zu sein. Alles Umstürzlerische hängt wie zufällig und von ihr unbemerkt an dieser Figur. "Wer sich auf den Kopf stellt, stellt im selben Augenblick die Welt auf den Kopf", sagt sich der Lehrer. Und tatsächlich ist Umkehrung, Umstülpung der Dinge, beiläufiger Umsturz in allen möglichen Varianten das Leitmotiv dieses Romans.

Das reicht von Kirios seltsamer Rede an die Fledermäuse in seiner Höhle - "Ihr Flugmäuse . . . Ihr hattet euch aus dem Staub gemacht und uns darin zurückgelassen" - bis zu seiner Art, alles in der Welt für bare Münze zu nehmen, außer dem Geld, das er nicht zu horten und in nützliche Dinge zu verwandeln versteht.

Der Leser hofft und glaubt, die Autorin macht sich mit eleganter Pirouette aus dem Staub

Es gehört zum Risiko solcher Schelmenromane, sich in einer mehr oder weniger vergnügliche Episodenabfolge zu verlieren. Schon bei Rabelais' "Gargantua" oder bei Eulenspiegels Streichen lauerte manchmal jene Gefahr. Hier ist sie gebannt durch abwechslungsreichen, geschickt konstruierten, ständigen Erzählerwechsel. Kirio ist genügend Idee, um ein schlüssiges Lebensmodell durchscheinen zu lassen, steht aber genug in den konkreten Lebenssituationen, um damit nicht abzuheben. Man findet ihn sympathisch, doch bleibt er uns irgendwie fremd und behält mit seinem unscharfen Erscheinungsbild etwas Kurioses, nicht ganz Geheures. Der Roman wirkt mitunter wie Kafkas Kurzerzählung vom Odradek, jenem im Treppenhaus rumorenden, nie sichtbaren Rätselwesen, erzählt jedoch im heiter vergnüglichen Stil eines Jean Paul.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Die literarischen Anspielungen sind zahlreich im Buch, von Marcel Proust bis zur biblischen Menschenerschaffung, doch kann man sie auch übersehen, wie der Romanheld wohl selber es tut. Die von der Autorin gekonnt in die Episoden versteckte alternative Lebensvision strahlt auch so, bis nach Hanau, der Geburtsstadt der Brüder Grimm, in die Kirio per Mitfahrgelegenheit gelangt. Dort verliert sich seine Spur. Es entsteht aber die Gelegenheit, auch das berühmte Brüderpaar als Erzähler auftreten und in der Umkehrform des Futurs das Märchen noch einmal aufsagen zu lassen: "Es wird einmal ein wunderlicher Flötenspieler sein . . . ". Diesmal mit glücklichem Ausgang. Konstruiert? Mag sein. Man ertappt sich selber jedoch beim Wunsch, daran zu glauben, während die Autorin sich mit einer letzten eleganten Pirouette aus dem Staub macht. Nur im Tonfall hat sie sich mit den manchmal aufdringlichen englischen Konversationsfloskeln des Erzählens etwas übernommen, als gälte es, plaudernd den letzten Ballast von Ernst abzuschütteln. Zu Kirios Freiheit braucht man sich nicht mit Wortpeitschen zu prügeln.

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