Deutsche Gegenwartsliteratur:Diese Wut gehört ihr

In ihrem Debütroman "Ellbogen" erzählt Fatma Aydemir von einer jungen Deutschtürkin.

Von Philipp Bovermann

"Migrationshintergrund", so was sagen nur "Opfer", Menschen mit Abitur, die fettige Haare haben. Hazal hat aufgehört, an das Gelaber ihrer Lehrer zu glauben. Doch an das Leben ihrer türkischen Gastarbeiter-Eltern glaubt sie auch nicht: Brav in einem Friseursalon Haare zusammenfegen, "irgendwann den Sohn irgendeines beschissenen Nachbarn heiraten und mich mit Goldschmuck behängen lassen."

Am wenigsten glaubt Hazal an sich selbst. Das ändert sich im Verlauf von "Ellbogen". Doch die Art und Weise, wie der Debütroman von Fatma Aydemir diese Selbstfindung erzählt, enthält jede Menge Sprengstoff. Ausgerechnet in der Nacht, in der sie volljährig, erwachsen, mündig wird, tötet Hazal einen Menschen - und weigert sich anschließend, die Tat zu bereuen. Sie will kein "Opfer" mehr sein. Dann lieber Täter.

"Ellbogen" ist eine Provokation der liberalen Mehrheitsgesellschaft, die Autorin muss es wissen. Fatma Aydemir, geboren 1986 in Karlsruhe, lebt als taz-Redakteurin in Berlin. In einer Kolumne schilderte sie neulich den Wunsch, den AfD-Politiker Björn Höcke einen "Hurensohn" zu nennen, aber "das geht natürlich nicht, das ist falsch". Sie schreibt: "Dass das stärkste Schimpfwort, das ich einem Nazi entgegenkeifen möchte, eines ist, das Frauen und insbesondere Sexarbeiter*innen abwertet, sagt viel über unsere Welt aus."

Hazal und ihre beiden Freundinnen haben hingegen keinerlei Probleme, den "Penis Power Talk", wie Aydemir ihn in der Kolumne nennt, mitzumachen. "Fluchtis" sind für Gül "voll pervers", obwohl Selmas Mutter selbst vor dem Krieg in Bosnien geflohen ist, und zum Leben fällt Hazal ein, dem gehöre mal "ordentlich die Mutter gefickt". Und dann ist da natürlich noch diese Sache, als sie in der Nacht von Hazals achtzehntem Geburtstag vom Türsteher nicht in den Club gelassen werden und auf dem zerknirschten Heimweg dieser beschissen grinsende Student in der U 6 an der Bahnsteigkante steht. Nie sehen wir Hazal deutlicher vor uns, als wenn sie uns von den Aufnahmen der Überwachungskamera entgegengrinst.

Fatma Aydemir2016

Journalistin, taz-Redakteurin und nun Romanautorin: Fatma Aydemir.

(Foto: Bradley Secker)

Von diesem Punkt an müsste eigentlich alles den Bach runtergehen, aber Fatma Aydemir lässt ihre Protagonistin davonkommen, anstatt den zivilgesellschaftlich gesegneten Mistkübel über ihr auszuschütten. Hazal flieht nach Istanbul. Sie bereut ihre Tat nicht. Sie wird sagen, sie habe sich das erste Mal gefühlt, "als sei nicht schon jeder Stein auf meinem Weg vorherbestimmt".

Den deutschen Staat erlebt die Protagonistin Hazal als süßholzraspelnden Inquisitor

Ein Haufen klassischer Romane erzählt davon, wie ein Verbrechen zum Initialschuss einer selbstverantwortlichen Subjektivität wird. Üblicherweise stellt sich der Held souverän den Konsequenzen seiner Tat. Er lässt sich die Tat zwar nicht nehmen, bestätigt damit aber die prinzipielle Wirksamkeit des Rechts, dem er trotzt. Eine Win-win-Situation für Gesetz und Delinquent. Genau das macht Hazal nicht. Sie liefert zwar eine Menge Erklärungen ("Weil solche Typen herumrennen und denken, die Welt gehört ihnen"), aber die Erzählerin Aydemir sät geschickt Zweifel, wie ernst es Hazal damit ist. Sie scheint selbst nicht so genau zu wissen, warum sie es getan hat. Und es ist ihr auch egal. Sie will nicht beichten.

So erlebt sie nämlich den deutschen Staat, als einen süßholzraspelnden Inquisitor. Sie wird in der ersten Szene im Supermarkt beim Klauen erwischt, der Ladendetektiv nimmt sie in die Mangel. Genüsslich erzählt er ihr was von Abschiebung. Erst als Hazal weint und ihm von ihren superstrengen türkischen Eltern vorschluchzt, von ihrem Vater, der sie schlägt, lässt er sie gehen. Vorher kassiert er noch eine "Fangprämie". Hazal sagt: "Der Typ zieht mich ab und kommt sich vor wie ein Sozialarbeiter. Er hält mir noch eine Moralpredigt, aber da höre ich schon nicht mehr zu und überlege, wo ich schnellstens Geld herbekomme."

Ich-Erzählerin Hazal im Roman

"Ich habe nicht das weinende türkische Mädchen gespielt, das Angst vor seinen Eltern hat, vor der Abschiebung, vor sich selbst. Dieses Mädchen, das bin ich."

Diese Hazal, die lügt, um zu überleben, die sich selbst fremd bleibt, steht uns als Protagonistin einer Milieustudie nur aus spöttischer Distanz zur Verfügung, um ein bisschen über ihre schmuddelige Welt im Wedding zu erzählen. Von den Serien ihrer Eltern, in denen Erdoğan "die Titten verboten" hat. Von ihrem Vater, der sie schlägt. Das ganze "Türkending" kommt ihr vor "wie ein schlechter deutscher Film". Doch kurz nach der Episode mit dem Ladendetektiv sagt Hazal: "Ich habe nicht das weinende türkische Mädchen gespielt, das Angst vor seinen Eltern hat, vor der Abschiebung, vor sich selbst. Dieses Mädchen, das bin ich."

Diese Heldin zeigt keine Reue. Sie trifft ihre Entscheidungen, auch wenn es die falschen sind

Istanbul soll nun das wahre Leben sein, aber sie kennt die Stadt nur aus Erzählungen und von Werbeplakaten: Istanbul, Stadt der Träume. Dort erlebt sie eine neue, eine für sie gewissermaßen komplementäre Fremde. In den überall gegenwärtigen Blicken der Männer. Und in der Atmosphäre einer Politisierung, denn Hazal kommt kurz vor dem Putschversuch des Militärs am Bosporus an. Irgendwie gehört sie dort hinein, ein menschlicher Sonderfall zum Ausnahmezustand.

Fatma Aydemirs doppelbödige Sprache der Lüge ist eine völlig andere als die von Feridun Zaimoglu, der 1995 mit "Kanak Sprak" das Wort "Kanake" literaturfähig gemacht hat. Ihm ging es darum, eine wahrhaftige, eine angemessene Sprache für den "Kosmos von Kanakistan" zu schaffen: Rau, schnell, atemlos verhackstückt, ein migrationsdeutsches Esperanto, vollgesogen mit Neuköllner Lebenswirklichkeit. Für Zaimoglu verband sich damit die Hoffnung, etwas der Black Consciousness-Bewegung Analoges zu schaffen.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Zwei Jahrzehnte später ist die Hoffnung passé, das sprachliche Experiment abgeblasen, der literarische Ernstfall eingetroffen. Hazal macht klare Ansagen, Aydemir schreibt klare Sätze. Wir kommen der Protagonistin nahe, ganz ohne Zaimoglus stilistische Dönerisierung, aber eine knochenharte Schicht Wut trennt uns von ihr. "Was soll denn daran unklar sein?", fragt Hazal herausfordernd und zitiert ein Wort, das sie aus Zeitungen kennt. "Wir hatten Streitlust, wir hassen deutsche Studenten."

Dafür wird diese Heldin keine Reue zeigen. Hazal tut etwas, was für türkische Mädchen nicht vorgesehen ist. Sie trifft eigene Entscheidungen, auch wenn es die falschen sind. "Ellbogen" ist ein Tritt in den Magen. Genauer, zwei Tritte. Einer für die misogyne türkische Gesellschaft. Und einer für die Verlogenheit der ach so liberalen Deutschen. Hazal sagt über den Ladendetektiv, der sie drangsaliert hat: "Dieser Hurensohn wollte mich nur betteln sehen."

Fatma Aydemir: Ellbogen. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2017. 272 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.

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