Süddeutsche Zeitung

Deutsche Gegenwartsliteratur:Das Alphabet des Exils

Wenn die Buchstaben aufbrechen: Senthuran Varatharajahs erstaunlich sprach- und formbewusster Debütroman "Vor der Zunahme der Zeichen".

Von Meike Feßmann

Ganz entrückt, fast wie in einer Raumkapsel, kommen zwei junge Menschen miteinander ins Gespräch. Sie sind sich nie begegnet, aber sie könnten sich begegnet sein. So zumindest legt es ihnen Facebook nahe. Ihre Profile bilden Schnittmengen, also tasten sie sich fragend aneinander heran, nachdem er den Anfang gemacht und sie angeschrieben hat. Während Senthil Vasuthevan und Valmira Surroi noch überlegen, wo sie sich über den Weg gelaufen sein könnten - in Marburg, in Berlin oder gar in New York? -, entsteht zwischen ihnen, was man, durchaus im starken Sinne Martin Bubers, eine "Begegnung" nennen könnte.

Sieben Tage und Nächte erzählen sie einander aus ihrem Leben. Als Kinder von Migranten aus Sri Lanka und Kosovo, in Deutschland aufgewachsen, offenbaren sie sich Dinge, die sie zuvor noch niemandem erzählt haben. Vieles ist mit Scham verbunden. So wird der virtuelle Raum zum idealen Ort einer Vertraulichkeit, die auf Schrift beruht, und auf der Abwesenheit des anderen.

Valmira Surroi studiert Kulturwissenschaften in Marburg und ist auf dem Sprung nach Pristina, wo sie in der Nationalbibliothek, in der schon ihre Eltern die Köpfe zusammensteckten, ihre Abschlussarbeit schreiben will. Senthil Vasuthevan sitzt in Berlin an seiner philosophischen Doktorarbeit. Vor Jahren hat auch er in Marburg studiert. Er schreibt skrupulös, seine Syntax ist gewunden wie eine Schlange, die nur mäandernd vorankommt. Er formuliert mit größter Genauigkeit, als dürfte ihm nur ja kein Fehler unterlaufen. Und das hat seinen Grund. Was er erzählen will, ist heikel. Er befürchtet, seine Eltern zu verraten, wenn er beschreibt, wie weit er sich von ihnen entfernt hat.

Dabei fehlt es ihm nicht an Respekt vor ihrer Lebensleistung. Mitte der Achtzigerjahre als Tamilen vor dem Bürgerkrieg aus Sri Lanka geflohen, haben sie sich in einer oberfränkischen Kleinstadt eine neue Existenz aufgebaut. Die Mutter putzt bei anderen Leuten, der Vater arbeitet in einer Fabrik der Autozulieferindustrie. Sie leben in einer Eigentumswohnung, die drei Söhne haben alle studiert. Doch Senthil kann das nicht als Erfolgsgeschichte verbuchen. Als sensibles Kind hat er die feinen Risse wahrgenommen, das Muster der wahnwitzigen Anstrengung, die das Leben den Eltern abverlangte. Und nun skizziert er es nach und verortet sich selbst darin.

Mit den Mitteln eines geschulten Philosophen, dem zwischen Hegel und Heidegger, Platon und Hölderlin, Wittgenstein, Kafka und Derrida nichts entgangen ist, erzählt er Szenen aus seinem Leben - immer unter Max Frischs Prämisse, jeder erfinde sich irgendwann eine "Geschichte, die er für sein Leben hält." Die Herkunft wird zum Dechiffrierungsprojekt. Und auch der Leser bekommt das, was unbekümmertere Autoren als der 1984 in Jaffna geborene, in Deutschland aufgewachsene Senthuran Varatharajah zu einer farbenprächtigen Geschichte ausbauen würden, auf eine Weise erzählt, die seine Dechiffrierungskünste herausfordert. Jede Vokabel muss er wahrnehmen, jeden Fingerzeig, selbst jeden Buchstaben.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Die Initialen der beiden Helden beispielsweise, S. V. und V. S., sind spiegelbildlich aufeinander bezogen - und zentrales Symbol des Textes ist die Schlange, zentrales Thema die Scham. In den Buchstaben ist die Geschichte versteckt, die Senthil seiner Gesprächspartnerin überantwortet. Seine Mutter stammt aus der Priesterkaste, über die Herkunft des Vaters haben die Eltern nie gesprochen. Wie dem etwa elfjährigen Jungen bei einer Autofahrt mit dem Blick auf die behaarten Hände des Vaters dämmert, dass er aus einer niederen Kaste stammen könnte, wird in die Zeichensprache seiner Gesten verlegt: den Verlauf des Sicherheitsgurts über dem Körper imaginiert Senthil als den um etwa dreißig Grad gedrehten zweiundzwanzigsten Buchstaben des Alphabets, als V. Das lässt sich als Verweis auf den Anfangsbuchstaben der Vaishyas, der dritten Kaste, deuten. Da Valmira unmittelbar zuvor von der Ähnlichkeit des V mit der (weiblichen) Scham gesprochen hat, überlagern sich die Bedeutungsschichten.

Valmira Surroi und Senthil Vasuthevan verfügen über eine Sprache, mit der sie sich zugleich exponieren und verbergen können. Und sie haben beide ein Bewusstsein für die Grenzen der Übersetzbarkeit. Valmiras Vater war Jurist und arbeitet nun als Gerichtsdolmetscher. Keine Sprache sei in eine andere übersetzbar, behauptet er, und ärgert sich, wenn die Tochter zu faul ist, den Ort ihrer Herkunft albanisch zu schreiben. Die beiden tauschen nicht nur Geschichten über das Leben im Asylbewerberheim aus, das Senthils Eltern, nach einem Missverständnis der Anfangsjahre, immer noch hartnäckig "Asyllandheim" nennen. Sie laden auch Fotos ihrer Familien hoch und erklären einander ihre Stammbäume. Was sie nebenbei übermitteln, ist immer auch ihr Fremdheitsgefühl, sowohl in Bezug auf ihre Herkunft als auch auf die deutsche Gesellschaft. Die harmlos gemeinte Frage, woher man denn so gut Deutsch könne, wird leicht zum Affront, wenn der Schluss naheliegt, nur die Hautfarbe könne die Frage überhaupt ausgelöst haben.

Der Titel des Romans, "Vor der Zunahme der Zeichen", unterstreicht die semiotische Konstitution. Aber er bezieht sich auch auf die Zeichen zunehmender Gewalt gegen Tamilen, die zunächst den Vater, dann die Mutter, schwanger und mit zwei kleinen Söhnen, aus Sri Lanka vertrieben haben. Und er bezieht sich überdies auf die biblische Deutung von Exil und Asyl und auf die Zeugen Jehovas. Fünfzehn Jahre lang war die Familie der christlichen Religionsgemeinschaft verbunden, die bei Behördengängen half, um Asylbewerber zu missionieren. Nur die Mutter ist dem Hinduismus treu geblieben, womöglich ein weiterer Grund für die Spannungen, die Senthil in seiner Familie wahrnimmt.

Diese sprachliche Radikalität ist selten geworden in der deutschen Gegenwartsliteratur

"Vor der Zunahme der Zeichen" ist ein Romandebüt von enormer gedanklicher Konsequenz und einer sprachlichen Radikalität, die selten geworden ist in der deutschen Gegenwartsliteratur. Vor knapp zwei Jahren erhielt Varatharajah beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt für Auszüge aus diesem Roman den 3sat-Preis. Wie der prämierte Text arbeitet der gesamte Roman mit der Überblendung von Theorie und Literatur. Dass Romane nicht einfach nur Geschichten liefern, sondern dechiffriert werden müssen, war bis Mitte der Neunzigerjahre eine Selbstverständlichkeit. Auch wenn man sich die Zeiten nicht zurückwünscht, in denen Sinn grundsätzlich aufgeschoben werden musste und die Bekundung, ein Roman habe keine Geschichte und keine Psychologie, als Ausdruck höchster Wertschätzung galt, gibt es Stoffe, die nach Verschlüsselung und strenger Form verlangen. Und zwar nicht nur, um jemanden zu schützen, sondern auch aus strukturellen Gründen.

Jacques Derrida, der algerische Jude, der kein Arabisch und kein Hebräisch konnte, dafür aber das womöglich differenzierteste Französisch der Philosophie, hat die Schrift auch deshalb vor der Stimme privilegiert, weil er jede Art der Zuschreibung als einen niemals zu beendenden Prozess betrachten wollte. In seinem Denken kann es weder Identität noch Präsenz geben, auch keine prinzipielle Unterscheidung zwischen Einheimischen und Fremden. Sein Spätwerk galt der Frage von Gastfreundschaft und Gerechtigkeit.

Jemanden als Fremden zu bezeichnen, erzeugt erst das Stigma, das dann durch Eingemeindung für bedeutungslos erklärt wird: ein Dilemma, das sich praktisch und politisch nicht lösen, wohl aber literarisch darstellen lässt. Auch von dieser Art Zeichen, dem Stigma der Verletzbarkeit, handelt dieser außerordentliche Debütroman. Seine sprachliche Gestalt hat gute Gründe. Sie schafft eine Art Hochsicherheitstrakt, um nicht in irgendeinen Realismus übersetzbar zu sein.

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SZ vom 23.03.2016
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