Deutsche Gegenwart:Aus der Kissengruft

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Die "kleine Schreiberin allein in der Kissengruft", noch nicht ganz fünfzig Jahre alt, verfasst Briefe an die einzige große Liebe ihres Lebens: Annette Pehnts Roman "Briefe an Charley" ist reines Kopfkino.

Von Meike Fessmann

Die Tochter ist aus dem Haus, einen Vater gab es nie dazu, einzelne Männer kamen wohl mal in Frage, aber keiner fand Gnade in den Augen der Erzählerin. Das Setting, aus dem Annette Pehnt ihren neuen Roman hervorzaubern will, gleicht einer Tabula rasa. Die bisherigen Romane und Prosabände der 1967 geborenen Autorin, etwa "Mobbing", "Chronik der Nähe", "Lexikon der Angst", lebten von ihrer sehr genauen Wahrnehmung und dem präzisen Zugriff auf ein Thema. Der neue Roman ist anders. "Briefe an Charley" ist reines Kopfkino.

Die noch nicht ganz fünfzig Jahre alte Ich-Erzählerin, eine "kleine Schreiberin allein in der Kissengruft", die sich mit Altersängsten plagt, sucht einen Ansprechpartner. Hat sie nicht früher mit Charley, ihrer großen, vielleicht sogar einzigen Liebe stundenlange Gespräche geführt? Und wäre es nicht eine tolle Idee, einfach an ihn zu schreiben, vielleicht kommt man ja wieder in Kontakt? Dass sie die Briefe abschickt, findet sie zwar selbst ziemlich unwahrscheinlich - aber notfalls wird eben ein Roman daraus, und das wäre auch recht praktisch. Und so erinnert sie sich an gemeinsame Tage und Nächte, an Fahrradtouren und Spaziergänge, an die Zeit, als man noch mit allem Möglichen liebäugelte, mit Yoga und Buddhismus, mit Musik und Soziologie, und schließlich an den Abschied auf einem Bahnsteig in Karlsruhe, als er sie für immer verließ. Sie erzählt dem längst Verflossenen von ihrer flügge gewordenen Tochter, und wie schwer es ist, sie loszulassen. Auch für ihn denkt sie sich aus, wie sein Leben weitergegangen sein mag, durchaus nicht neutral, sondern mit "Hass auf dein Leben nach mir".

Seine Frau könnte Laura heißen oder Lisa, zwei Kinder könnten sie bekommen haben. Vielleicht ist er Arzt geworden und hilft nun Flüchtlingen irgendwo in den Krisengebieten der Welt. Ziemlich stolz ist sie darauf, dass sie das alles für ihn erfinden kann: "Wie gefällt dir das, CHARLEY? Ich kann dich zum Helden der Schweigenden machen, CHARLEY, in Irak, Ossetien, Afghanistan, in der Ukraine, wie findest du das?" Allerdings tut sie das nicht - sie sonnt sich nur in der Möglichkeit und apportiert weiter Nichtigkeiten.

Wie könnte die Frau des ehemaligen Geliebten heißen? Laura - oder Lisa?

Es gibt in der Literatur keinen Zwang zu großen Stoffen. Und doch sollte ein Roman dem Leser irgendetwas bieten, das ihn interessieren kann. Reinhard Lettau, Peter Bichsel, Wilhelm Genazino, um nur einige Meister des Unscheinbaren zu nennen, sind nicht nur große Wahrnehmungskünstler. Sie vertreten den Standpunkt des Kleinen mit Verve. Annette Pehnt fehlt diese Überzeugung, zumindest in diesem Buch. Stattdessen ruft sie gleich mehrere Hausheilige an.

Lange Zitate aus Roland Barthes "Fragmente einer Sprache der Liebe" eröffnen viele der mit Januar- und Februar-Daten ohne Jahresangabe versehenen Kapitel. Friederike Mayröcker wird als großes Vorbild beschworen, mitsamt der Vorliebe fürs Gärtnern und Graben und ihrer Eigenart, auch noch die kleinste Kleinigkeit mit dem Andenken an den verstorbenen Gefährten Ernst Jandl zu verbinden. Dass das Verhältnis zu Charley Ähnlichkeit mit der lebenslangen Liebe des Dichter-Paars haben könnte, versucht die Erzählerin erst gar nicht zu suggerieren. Außerdem weiß sie genau, was den eigentlichen Unterschied ausmacht: dass sie nicht Friederike Mayröckers Sprache hat.

Auch wenn die Erzählerin Louise Bourgeois' "Zellen" betrachtet und bekennt, dass sie die Künstlerin ebenso "liebe" wie die Dichterin, wird jeder, der (wie offenbar die Autorin) kürzlich die Münchner Ausstellung besuchte, so empfinden wie die Erzählerin: dass sie es "nicht gut genug" beschreibt. Dünn ist die Geschichte, die uns Annette Pehnt in diesem Buch serviert - zu dünn für einen Leser, der selbst nicht Charley ist. Man wünscht sich, es würde ihn tatsächlich geben, und die Briefe gingen direkt an ihn.

© SZ vom 10.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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