Deutsche Exilliteratur:Abschied von Europa

In seinen biografischen Essays über Erasmus von Rotterdam und Montaigne hat Stefan Zweig seine eigene Zeit reflektiert. Jetzt sind sie zusammen zu lesen, und es gibt eine vorzügliche Neuedition seiner Autobiografie "Die Welt von gestern".

Von Volker Breidecker

Deutsche Exilliteratur: Die Ärzte. Am Krankenbett eines Mannes streiten zwei Ärzte so lang über die Behandlungsmethode, bis der Patient stirbt. Daraufhin triumphieren beide: Wäre er meinem Rat gefolgt, "er wäre noch am Leben". Aus: "Die Fabeln von La Fontaine, illustriert von Gustave Doré".

Die Ärzte. Am Krankenbett eines Mannes streiten zwei Ärzte so lang über die Behandlungsmethode, bis der Patient stirbt. Daraufhin triumphieren beide: Wäre er meinem Rat gefolgt, "er wäre noch am Leben". Aus: "Die Fabeln von La Fontaine, illustriert von Gustave Doré".

Der zu Lebzeiten meistgelesene Schriftsteller deutscher Zunge, dessen in mehr als fünfzig Sprachen übersetzte Bücher - vorwiegend Erzählungen, Essays und romanhafte Biografien historischer Persönlichkeiten - in Millionenauflagen Verbreitung fanden, seufzte zuweilen, dass es bei ihm "wie in einer Telefonzentrale und Druckerstube" zugehe. Stefan Zweig schrieb so im April 1935 an seine Sekretärin und künftige zweite Ehefrau Lotte Altmann, an deren Seite er Österreich bereits im Jahr zuvor verlassen hatte - zunächst nach London, dann bei Kriegsausbruch in die USA, schließlich nach dem brasilianischen Petropolis, wo das Paar im Februar 1942 freiwillig aus dem Leben schied.

Jene "Telefonzentrale", die vormals für das dichte Netzwerk eines passionierten Projektemachers stand, war da längst stillgelegt: Zweig war des Portugiesischen nicht mächtig. Er litt unter seiner "paradiesischen" Isolation in einer Hemisphäre, die er in dem 1941 veröffentlichten Buch "Brasilien. Land der Zukunft" noch als Muster einer neuen Zivilisation gefeiert hatte, welche an die Stelle des in Barbarei versunkenen Europas rücken werde.

Zweigs Montaigne-Essay ist geprägt vom Bewusstsein einer unumkehrbaren Katastrophe

Ferne Freunde unterrichtete Zweig noch in den letzten Wochen seines Lebens über den anhaltenden Betrieb innerhalb der hauseigenen, selbst dem Nomadenleben des Flüchtlings abgetrotzten "Druckerstube". Zweigs Schreibtisch befeuerte geradezu einen grafischen Großbetrieb, sodass sein Verleger Anton Kippenberg witzelte, der Wiener Fabrikantensohn habe den Insel Verlag zu seiner zweiten "Fabrik" gemacht. Zweigs gewöhnlich gleichzeitig oder in dichter Folge in mehreren Sprachen erscheinende Werke wurden vom Autor selbst bis zur Druckreife betreut und unterlagen auch in Neuauflagen seiner Revision. Er kümmerte sich um die Gesamtausstattung seiner Bücher bis hin zur Wahl des Papiers. Die eigene Sammlung sogenannter Hausexemplare seiner Bücher umfasste rund 600 verschiedene Ausgaben. Ihre Schicksalswege wurden vom Urheber mit äußerster Pedanterie in den Spalten eines großformatigen Journals verzeichnet - dem sogenanntem Hauptbuch.

Prinzipiell hatte sich daran auch im Exil nichts geändert, und noch vor dem letzten Atemzug brachte Zweig die jüngst fertiggestellten Werke auf den Weg, darunter die "Schachnovelle" und die im Original wie in ersten Übersetzungen ins Englische, Spanische und Portugiesische - besorgt von befreundeten Übersetzern - bereits druckreif gefertigten Typoskripte seiner Autobiografie. Unter dem Titel "Die Welt von Gestern" erschien die deutsche Version postum noch 1941 im Stockholmer Exilverlag Bermann Fischers.

Hinzu traten die offenen, die begonnenen Projekte, darunter ein Roman und als letztes, unvollendet gebliebenes Werk ein großer biografischer Essay über Michel de Montaigne. Der "Montaigne" war die Frucht des Mangels an lebenden Gesprächspartnern und einer erklärten "contemplativen Pause" in Zweigs Arbeitsabläufen. Drei Wochen vor seinem Tod schreibt er dem Schriftsteller Hermann Kesten ins New Yorker Exil: "Hier ist mein einziger Umgang zur Zeit der vor dreihundertfünfzig Jahren verstorbene Michel de Montaigne". Den Verfasser der "Essais" und gescheiterten Politiker, der sich aus den blutigen Wirren der Religionskriege hinter die Mauern seines Bibliotheksturms zurückgezogen hatte, schildert Zweig als Bewahrer seiner inneren Freiheit und Vorkämpfer geistiger und moralischer Unabhängigkeit. Als "Tröster" erschien ihm Montaigne zum rechten Zeitpunkt - bot dieser ihm doch die erklärte Möglichkeit, sich "wie seinerzeit in Erasmus in diesem Mann zu spiegeln, der in eine ebenso furchtbare Zeit wie die unsre verschlagen war."

Beide Essays, der bekanntere über den Humanisten Erasmus von Rotterdam, und der bislang kaum greifbare über Michel de Montaigne, der als Zweigs persönliches Vermächtnis anzusehen ist, sind jetzt in einem Band vereint. In der Doppelspiegelung mit zwei Bannerträgern eines humanen Geists, die im Abstand fast eines Jahrhunderts in die Abgründe ihrer Zeit blickten und doch standhielten, wird auch für Zweig die katastrophale Zeitspanne auslotbar, die beide Essays voneinander trennt. Der "Erasmus" entstand 1934 als historisch verkleidete Positionierung eines übernationalen Europäertums gegenüber der Bedrohung durch den Nationalsozialismus. In dem Zauderer Erasmus, der sich unter den fanatisch ausgetragenen Glaubenskonflikten des Reformationszeitalters zwischen alle Stühle setzte und sich die eingefleischte Handlungshemmung des Intellektuellen zur zweiten Natur werden ließ, erschuf sich Zweig einen persönlichen "Nothelfer" - die Biografie seines eigenen "Spiegelbildes", wie ihm Thomas Mann bescheinigte.

Zweigs "Montaigne" indessen ist tief geprägt vom Bewusstsein einer unumkehrbaren Katastrophe der europäischen Zivilisation. Montaignes persönliches Problem - auch dies dürfte Zweig mit seinem Protagonisten teilen - ist ein nur schwer zu regulierendes Maß, genauer ein Übermaß an Empathie, darauf angewiesen, in distanznehmender Reflexion austariert zu werden - auch um den Preis des zeitweiligen Rückzugs hinter eine selbst errichtete "Zitadelle": Also "halte ich mich an Montaigne", schrieb Zweig dem Exilgefährten Joachim Maas kurz vor Jahreswechsel 1941/42: Montaigne, "der in einer genau so dreckigen Zeit wie der unseren versucht, unabhängig zu bleiben und auch unter der Gasmaske klar zu denken." Dass Zweig in Montaigne überdies einen Verteidiger des im äußersten Fall selbst herbeigeführten Tods fand, dürfte ihm die letzten Stunden erleichtert haben.

Davor aber brachte Zweig noch seine große Autobiografie auf den Weg. Sie ist jetzt in einer ebenso großzügig wie leserfreundlich ausgestatteten Neuausgabe durch Zweigs Biografen Oliver Matuschek greifbar. Er hat den Text und einzelne Stellen in einem rund 250-seitigen Anhang so gründlich und lehrreich kommentiert, dass für Zweigs wohl bedeutendstes Werk mit all seinen autobiografischen wie generationsbiografischen Gehalten auch die narrativen, zuweilen roman-, dann wieder novellenhaften Formierungen sichtbar werden. "Die Welt von Gestern" ist ein Hausbuch auch für alle späteren Generationen von noch immer bestechender, teilweise schon wieder beunruhigender Aktualität, wo immer vom Schicksal und den Gefährdungen der Vision eines weltbürgerlichen, übernationalen Europas der offenen Grenzen der Rede ist.

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