Deutsche Debattenkultur:Der Internetschnupfen grassiert

Margarete Stokowski wollte nicht in einer Münchner Buchhandlung lesen, Uwe Tellkamp beklagt einen "Gesinnungskorridor": Das beleidigte Ich wird zum Mittelpunkt des Kosmos.

Kommentar von Matthias Drobinski

Ist Deutschland eine Meinungsdiktatur, weil ein paar hundert Kulturschaffende erklären, dass sie die rechte Identitäre Bewegung, die AfD und Pegida für schrecklich und schädlich halten? Oder weil eine Autorin sich weigert, in einer Buchhandlung zu lesen, in der auch rechte Bücher verkauft werden? Die Debatten, die da gerade in die Höhe gejazzt werden, zeigen ziemlich gut das Problem politischer und kultureller Debatten im Socialmedia-Zeitalter: Die Nebensache wird zur Hauptsache, das Periphere zum Zentrum, das beleidigte und beleidigbare Ich zum Mittelpunkt des Kosmos. Manchmal zeigt sich ja wirklich im Kleinen das Große und im Detail das Ganze. Manchmal hilft aber auch die Erkenntnis: Das Kleine ist klein und das Detail ein Detail.

Die Kolumnistin und Schriftstellerin Margarete Stokowski also wollte nicht in der Münchner Buchhandlung Lehmkuhl lesen, weil dort auch Thilo Sarrazins Werke und Bücher eines rechten Verlages verkauft werden. Man kann das mit guten Gründen für unterkomplex gedacht und für falsch halten, gar für gefährlich, wenn daraus der allgemeine Anspruch abgeleitet würde, kein Buchladen dürfte mehr strittige und ärgerliche Bücher verkaufen dürfen. Stokowski hat diesen Anspruch aber gar nicht erhoben, sie hat für sich eine Entscheidung getroffen - so what? Dann muss und wird sie eben woanders lesen. Doch was passiert? Ein Pro und Kontra in der Zeit, ein Welt-Reporter macht sich auf die Reise zum Buchladen des Anstoßes, alle Zeitungen schreiben, alle Sender senden, ein Twittergewitter erhebt die Autorin zur tapferen Kämpferin gegen Rechts oder eben zur linksautoritären Bücherverbrennerin. Gibt es sonst keine Sorgen auf der Welt?

Tellkamp muss mit Kritik rechnen und leben

Und Uwe Tellkamp, der Schriftsteller, beklagt sich nun bitter über die "Erklärung der Vielen" und über einen "Gesinnungskorridor", über den Medien, Politiker und eben auch Kulturschaffende wachten und jede ehrliche Debatte über die Gefahr durch die nach seiner Erkenntnis immer noch hereinströmenden Flüchtlinge zu unterbinden versuchten. Er tut das auf dem ziemlich rechten Blog Sezession, der ja nun ein ausgewiesener Ort der Toleranz, der Ausgewogenheit und der Meinungsvielfalt ist - aber klar: Er darf, er soll das tun, es ist ein Beitrag zur politischen Debatte, und wenn dabei mal die gefühlte Wahrheit sich nicht ganz mit den Fakten deckt, ist das ja auch ein Zeitdokument. Nur muss Tellkamp dann auch mit Kritik rechnen und leben - und sich nicht nach der dreißigsten bösen Zuschrift als Märtyrer des neu aufziehenden Stalinismus stilisieren. Vor allem aber: So what? Ein Schriftsteller wiederholt, was er schon mal geschrieben hat, das ist in Ordnung, aber eine Randnotiz.

Nur funktioniert das leider so nicht mehr. Die Blasen müssen bedient werden, die Randnotiz wird viral, also ansteckend, zum Internetschnupfen. Doch aus der Kommunikationsinfektion, aus der Inflationierung der Wörter entsteht keine wirkliche Debatte, kein Streit darum, wohin es gehen soll mit dem Land und wie man leben soll, kein Austausch darüber, was wer denkt, vom Zuhören ganz zu schweigen. Der Internetschnupfen ist eine Krankheit. Immerhin eine, die rasch vorübergeht, bevor das nächste Virus kommt. Der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer erfand einmal die Figur des großen Gelehrten Theodor Pilz, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Zahl der Worte in der Welt in Grenzen zu halten. Den Mann bräuchte man heute.

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