Deutsch-griechische Kulturgeschichte:Lähmende Liebe, unselige Begeisterung

Wehrmacht in Athen: Deutsche Soldaten auf der Akropolis im Zweiten Weltkrieg. Foto: Oliver Das Gupta / SZ Photo

Deutsche Soldaten auf der Akropolis im Zweiten Weltkrieg.

(Foto: Foto: Oliver Das Gupta / SZ Photo)

Claudia Schmölders skizziert in dem Buch "Faust & Helena" die deutsch-griechische Faszinationsgeschichte.

Rezension von Stephan Speicher

Im Frühjahr 1962 sah Martin Heidegger zum ersten Mal Griechenland, während einer Kreuzfahrt auf der Jugoslavija. Nach der zweiten Nacht zeigte sich Korfu, doch Heidegger blieb an Bord, er misstraute der möglichen Anschauung. Später wird er an Land gehen, Olympia, Delphi und die Akropolis sehen, aber muss er nicht als (weiteres) Beispiel für eine fatale Eigentümlichkeit des deutschen Griechenlandbildes gelten: die Anschauungsschwäche, Innerlichkeit, Scheu vor menschlicher Wirklichkeit, erbarmungslose Prinzipienfestigkeit? Liegt hier ein Moment, das zur deutschen Katastrophe 1933 beitrug?

Die Kulturhistorikerin Claudia Schmölders, die sich mit ihren Arbeiten zur Geschichte der Physiognomik viel Anerkennung erworben hat, gibt das in "Faust & Helena. Eine deutsch-griechische Faszinationsgeschichte" zu bedenken.

Eine umfassende Geschichte des deutschen Griechenlandbildes ist ihr Buch nicht. Vom altsprachlichen Gymnasium, von den Tragikern im Repertoire der Stadttheater, den Auflagen der antiken Schriftsteller ist keine Rede. Schmölders betrachtet die großen Gestalten des deutschen Griechenlandenthusiasmus, wobei sie irritierenderweise (wohl durch den englischen Sprachgebrauch verwirrt) in diesem Zusammenhang gerne von "Hellenismus" spricht, einem Hellenismus, der sich zum Hellenischen verhält wie der Alkoholismus zum Alkoholischen.

Sie setzt ein mit Johann Joachim Winckelmann und seiner Antikenbegeisterung samt dem Unwillen, Griechenland selbst in Augenschein zu nehmen, einem Fehler, den auch Goethe machte. Den Helena-Akt des Faust II versteht Schmölders als unglücklichen Versuch, das Deutsche mit dem Klassisch-Griechischen zu vermählen. Unglücklich bleibt der Versuch, weil Goethes Klassizismus zu einem Austrocknen der Imagination geführt habe, bei ihm selbst wie seinen literarischen Nachfahren. Der Tod Euphorions, des Sohnes von Faust und Helena, drückt es bildhaft aus.

Die leitende Idee des Buches stammt von der irischen Germanistin Eliza Butler, die 1935 "The Tyranny of Greece over Germany" veröffentlichte. Das ist ein glänzend geschriebenes, geistvolles Werk, das am Beispiel der großen Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts einen lähmenden Einfluss Griechenlands auf die Deutschen beschreibt. Daraus sei eine Art von Wirklichkeitsfremde erwachsen, die auch politisch üble Folgen hatte.

Es ist die scharfe Umkehr eines verbreiteten Gedankens, wonach Deutschland aus seinem Beharren auf dem Ureigenen, der Neigung zum Romantischen, Vagen, Musikalischen dem Nationalsozialismus entgegengestürzt sei. Nun soll die griechische Antike, die doch ganz Europa begeisterte, das deutsche Unheil gefördert haben.

Nicht umsonst hat sich Eliza Butler in den letzten Jahren vor ihrem Tod 1959 der Geschichte des Faust-Stoffes und der Magie zugewandt. Diese deutsche Tradition vernachlässigt und damit das "Dämonische" aufgegeben zu haben um eines bleichen Griechenlands willen, das war ihrer Meinung nach ein Grund für die künstlerische Auszehrung Goethes und die Verfehlung der deutschen Geschichte.

Eine originelle Idee ist das gewiss. Ob sie triftig ist? Das ist die Frage, auf die sich Claudia Schmölders aber nicht so richtig einlassen will, und darin liegt ihr Problem. Sie ist von Butler beeindruckt; das versteht man. Eliza Butler war eine couragierte Frau, sie hatte mehr als nur Bibliotheken und Colleges gesehen. Ganz zeittypisch neigte sie zu Obskurantismus und Theosophie und war doch in vielem klarsichtig, witzig, nüchtern. Der intellektuelle Reiz ihrer Person ist groß. Aber er sollte nicht die Frage ersticken: Stimmt es, was sie sagt?

Deutsch-griechische Kulturgeschichte: Claudia Schmölders: Faust & Helena. Eine deutsch-griechische Faszinationsgeschichte. Berenberg, Berlin 2018. 304 Seiten, 24 Euro.

Claudia Schmölders: Faust & Helena. Eine deutsch-griechische Faszinationsgeschichte. Berenberg, Berlin 2018. 304 Seiten, 24 Euro.

Blick ins Buch

In der Tat haben die Deutschen dazu geneigt, die Griechen für Seelenverwandte zu halten. Die römische Welt erschien ihnen dagegen zweitklassig, das macht einen Unterschied zum romanischen Raum und auch zu den Briten. Aber war und ist er so groß? Schmölders gibt selbst zu bedenken, welch wichtige Rolle die Classics im Großbritannien des 19. Jahrhunderts spielten.

Lähmte die Bewunderung des Hellenischen wirklich das künstlerische Leben Deutschlands? Ist nicht zum Beispiel Schinkels Architektur beweglicher, freier, fantasievoller als die seines berühmten Kollegen John Nash?

Schmölders lässt die unselige Griechenliebe in der Besetzung des Landes 1941 gipfeln. Die jungen Offiziere hätten sich gefühlt wie Reinkarnationen der Dorer oder Achaier: ein politisches Verbrechen aus fehlgeleiteter Liebe, "Hitler als grausamer Graekomane". Doch die Autorin weiß natürlich, dass die Besetzung Griechenlands nicht der Graekomanie entsprang.

Im Gegenteil war Hitler höchst unwillig - für den Griechenlandfeldzug musste der Angriff auf die Sowjetunion verschoben werden -, sah sich aber in der Bündnispflicht gegenüber Mussolini. Und entsprangen die Verbrechen an der Bevölkerung - man spricht von 100 000 Toten - einem Gefühl "dorischer" Überlegenheit gegenüber einem vermeintlich depravierten Balkanvolk, oder wären sie nicht auch ohne klassische Einstimmung begangen worden?

Auch die Gegenwart wird in diesem Licht gedeutet: Der deutsche Griechenkult habe sich "nach der Wiedervereinigung erst recht entwickelt" (unklar, wie die Autorin dazu kommt), und bald darauf mussten die Griechen eine "erneut drückende Fremdherrschaft erleben", in der Schuldenkrise nämlich.

Doch gleich nimmt Schmölders den Vorwurf halb wieder zurück. Nicht allein die Deutschen trügen daran Schuld und überhaupt sei diese Politik "längst nicht von jedem politisch denkenden Griechen oder Europäer überhaupt als Fremdherrschaft begriffen" worden. Es ist eine merkwürdige Unklarheit in dem Buch, als ob das Konzept zwischendurch verändert worden wäre. Schmölders folgt Butler, wenn auch nicht in allem, aber bezieht zu oft nicht Stellung.

Vielleicht erklären sich daraus auch Fehler, die man einer Autorin diesen Ranges nicht zutrauen möchte: Nein, der Fries des Parthenon zeigt nicht die Schlacht bei Marathon; auf den Pharsalischen Feldern, im römischen Bürgerkrieg, kämpfte Pompeius nicht für die Demokratie; die Odyssee endet nicht "spießig" oder "friedlich", vielmehr "dampfte der Boden vom Blute" (der Freier); und Heinrich Heine war auch nicht katholisch. Ein Porträt Eliza Butlers hätte man gerne gelesen.

Aber daraus eine deutsch-griechische Beziehungsgeschichte zu entwickeln, die gegenüber dem mutmaßlichen Kern des Buches nicht frei genug ist zum selbständigen Urteil, das war keine gute Idee.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: