Deutsch-französisches Verhältnis:Das Baguette der frühen Jahre

Wer hat die hungrigen Intellektuellen nach 1945 gesättigt? Die Amerikaner? Nein, die wirklich großen Ideen kamen aus Frankreich.

Fritz J. Raddatz

Das kulturelle Gedächtnis ist zu Zeiten verschlissen wie ein alter Theatervorhang; hinter ihm huschen nur mehr Schemen, er lässt ein Flüstern erahnen oder das Schleifen erstorbener Schritte; der fahl gewordene Kattun gibt nicht mehr preis, was einstmals erregte. Die Bühne ist leer, der Plüsch des Zuschauerraums riecht nach Mottenpulver. Skandal wie Jubel verhallt, verschluckt vom großen Vergessen.

Deutsch-französisches Verhältnis: Der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre war Galionsfigur des Existentialismus.

Der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre war Galionsfigur des Existentialismus.

(Foto: Foto: ap)

So etwa, verworfen in den Moloch Vergangenheit, kommt sich vor, wer sich erinnert an die mächtigen literarischen Prägungen, die entscheidenden Theaterereignisse der Nachkriegszeit, die oft frech-frivolen heiteren Kinostunden.

Erinnerung ist ja auch ein Transitivum; also sei daran erinnert: Es war nämlich Frankreich, das mit seinem eleganten Schwung, seiner Lust am Stürmischen uns seinen Stempel aufdrückte. Wie das? Ja Ja, Nein Nein: Hemingway, Faulkner, Thomas Wolfe - so hießen doch die Mächtigen? Indes: Das großartig Neue, die ganz andere Ästhetik brachten sie nicht.

Faulkners "Licht im August" war auf Deutsch 1932 erschienen, Hemingways Romane "Fiesta" und "Wem die Stunde schlägt" 1926 und 1940, Thomas Wolfe kannte man seit den 1920er Jahren. Verglichen mit den wüsten Abgründen des "Ekel"-Romans von Jean-Paul Sartre war etwa Hemingways doch etwas brusthaariges Macho-Stakkato eher herkömmliche Prosa, Thomas Wolfes zwar schöne Epik doch recht gemächlich.

Trunkene Siegeseuphorie

Als 1948 in Berlin Joana Maria Gorvin sich unter der Regie ihres Lebensgefährten Jürgen Fehling in Sartres "Fliegen" an einer Art Totempfahl der Freiheit hochräkelte - von uns damals gar als obszön empfunden -, hatte nicht ein Großstadtkätzchen geschnurrt, sondern die wilde Pariser Katze ihre Krallen gezeigt.

Dies ist das Datum, von dem an, einer Schockwelle gleich, sich neues Denken und neue Form Bahn brachen. Die begierig aufgesogene Religion hieß Existentialismus, und ihr Hohepriester hieß Sartre. Nicht dass wir wirklich verstanden - wenn er es denn selber verstand -, was dieses Amalgam aus schlecht verdautem Heidegger, etwas Instant-Marxismus und trunkener Sieges-Euphorie nach den eben überstandenen Jahren des Schreckens bedeutete. Es war ein Rausch, und der kam aus Paris. Freiheit stand auf dem Panier - obwohl ja gerade Sartre in einem schwer zu entzwirnenden Denk-Mäander keineswegs deutlich unterschied zwischen den Grenzen, die der Freiheit des Menschen gezogen sind und seinem "Geworfensein": einerseits das Individuum, das sein Schicksal selber in die Hand nimmt, andererseits das Subjekt, dessen Schicksal vorherbestimmt ist.

Sartres enormer Einfluss auf die intellektuelle Nachkriegsgeneration kann gar nicht überschätzt werden, ja, er ist heute kaum mehr darstellbar. In einem geradezu irrwitzigen Taumel tanzte Europa, tanzte vor allem das westliche Deutschland nach dieser Melodie der neu ausgesungenen, neu erreichten "Liberté"; und wenn ihre Gregorianik auch nur aus der rauchigen Kehle der offen bisexuellen Juliette Greco gehaucht wurde. Saint-Germain-des-Prés hieß das Zauberwort, und munter stülpten wir es über ganz divergierende Protagonisten.

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Das Baguette der frühen Jahre

Nicht nur die turbangeschmückte Simone de Beauvoir gehörte in das Krippenbild - Albert Camus mit seiner Theorie des Absurden so gut wie Maurice Merleau-Ponty mit seinem Marxismus-Eigenbräu oder Henri Alleg mit seiner Kolonialismus-Theorie. Wir rasten ebenso enthusiastisch in Aufführungen vom "Seidenen Schuh" des Katholiken Paul Claudel, wie wir Vercors' leicht fragwürdige Fraternisierungsnovelle "Das Schweigen des Meeres" verschlangen.

Dabei ist zu ergänzen: Auch die großen Debatten der französischen Intellektuellen - vornehmlich rasierklingenscharf ausgetragen in Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes - zündeten in unseren Köpfen, unentwegten kleinen Explosionen gleich. Schwer vorstellbar solche rigiden Auseinandersetzungen wie die zwischen Sartre und Camus, Sartre und Merleau-Ponty in einer auflagenschwachen Monatsschrift - die dennoch ganz Frankreich und Westdeutschland gleich mit in Atem hielten. (Es war ja Camus, der als Erster - von Sartre beleidigend deshalb attackiert - auf das sowjetische Gulag-Unheil hinwies.)

Ich betone Westdeutschland; denn im bald abgespaltenen Ostteil des Landes gab es fundamental geistige Gegensätze nicht. Sartre wurde dort zu der Zeit (also vor seiner Annäherung an den Kommunismus) kaum zur Kenntnis genommen - und wenn, durch eine groteske Philippika "Existentialismus oder Marxismus?" schon 1946 aus der Feder des Georg Lukács, einer Art Ostblock-Adorno, papale Instanz in jedem Fall mit Bannbullen-Macht. Von Brecht etwa gibt es kein Wort zu Sartre, nicht zu der fast klassisch zu nennenden Antisemitismus-Erzählung "Die Kindheit eines Chefs", nicht zu dem luziden Essay "Was ist Literatur?", vor allem nicht zu dem Stück "Die schmutzigen Hände", seiner "Maßnahme" derart ähnlich, dass beide Autoren ihre eigenen Stücke verboten.

Zerfledderte Voltaire-Exemplare

Wie immer: Das weit ausschwingende Konzept der "Littérature engagée" kam aus Frankreich und ergriff Platz in den Köpfen der Nachkriegsgeneration. Vielleicht hatten wir damals noch nicht Zolas "J'accuse" gelesen und wussten nicht, dass sogar ein Victor Hugo einst emigriert war. Aber jenen erwähnten Essay kannte man, sein Furor wurde der unsere: Literatur sei nicht das unverbindliche Spiel des beliebig Schönen; sie ist so gut Produkt der Gesellschaft, wie sie in die Gesellschaft hineinwirkt.

Der Autor ist kein unbeteiligter Arrangeur ohne Pflicht und Gewissen, sondern hat einen Auftrag, sich einzumischen in die Res publica. Gewiß, das ist der Gedanke der Aufklärung. Nur wäre es pure Hochstapelei, täte man so, als seien die - damals - Jungen alle mit vom Lesen zerfledderten Voltaire-Exemplaren unter dem Arm herumgelaufen; und der Tag, an dem der von Sartre wie von einer Ein-Mann-Armee erbittert (und etwas wirr) bekämpfte de Gaulle sagen sollte "einen Voltaire verhaftet man nicht", war noch fern. Wir nahmen uns das Naheliegende, es war "das Brot der frühen Jahre".

Tatsächlich nämlich ist staunenswert, wie drängend der französische Impuls des literarischen Engagements für viele der Autoren wurde, die nach Kriegsende zu schreiben begannen. Selbst Schriftsteller, die kein Wort der erwähnten Franzosen gelesen haben mochten - Wolfgang Borchert, Wolfdietrich Schnurre, der frühe Böll - hatten deren Zeitgeist gespürt und aufgenommen. Natürlich spielte der Erlebnishintergrund - Terror, Krieg, Elend, Hunger und Zerstörung - eine wesentliche Rolle. Doch wäre ja auch eine Themenflucht hin zum "Blümelein fein" denkbar gewesen.

Nichts da. Der ganz junge Rühmkorf begriff von Beginn an seinen Griffel als Lanze, der nicht ganz so junge Arno Schmidt schrie die sich formierende bundesdeutsche Gesellschaft förmlich an, erwog gar, sie in Richtung DDR zu verlassen, und wenn Koeppens Romane nicht geradezu aggressive Wirklichkeitsattacke sind, dann weiß ich nicht, was Littérature engagée ist.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Hubert Fichtes Gespräch mit Genet legendär war.

Das Baguette der frühen Jahre

Es gab keine ordre - von wem auch? Die französischen Kulturoffiziere trugen schließlich keine sowjetischen Uniformen, saßen nicht in Berlin-Karlshorst und hießen nicht Orlow. Weder verboten noch geboten sie. Es war keine Macht, es war etwas Machtvolles, das uns beherrschte. Überprüfen wir doch einmal die hoch gepriesene, viel gescholtene Gruppe 47 (also zwei Jahre nach Kriegsende gegründet). Sie hatte weder eine Satzung noch präzise ästhetische Setzungen - es sei denn, man wolle Böll und Heißenbüttel über einen Kamm scheren.

Aber ob Wolfgang Weyrauchs Gedichtband "Atom und Aloë" oder Ingeborg Bachmanns "Der gute Gott von Manhattan", ob Enzensbergers erste Gedichte oder schließlich die - in Paris entstandene - "Blechtrommel" von Günter Grass: Es war der kulturelle Weg vom Ausgezehr zum Aufbegehr. Paul Celans so düster verschlüsselte Schrecknisse sind bleibendes Beispiel dafür. Und noch die Folge-Generation - Hubert Fichte, Rolf Dieter Brinkmann - nahm diese Fäden auf für das Weben ihrer Phantasieteppiche.

Dass Fichte ein bis heute spektakuläres Gespräch mit Genet führte, ist doch nicht erklärbar durch die banale Chiffre Homosexualität; es ist vielmehr das Aneignen einer als gemeinsam empfundenen großen Verwerfung: Dieb, Verbrecher, Außenseiter - wer diese scharf ritzende Spiegelscherbe der Gesellschaft nicht vorhält, ist bereits untergegangen in ihrem Morast. Noch Thomas Brasch, dessen Werk ein einziges "Wehe" skandiert, hatte dieses Interview über dem Bett hängen.

Der nicht zu überhörende Predigerton der deutschen Nachkriegsliteratur - zugegeben: blechern gelegentlich, ärgerlich oft - hängt fraglos mit diesem Erbe zusammen. Das Priesterliche ist auch bei Camus zu vernehmen. Von der Kanzel werden ja die Sünden dieser Welt verkündet, Belehrung und Bekehrung. Das alles war unseren maîtres penseurs nicht fremd, am allerwenigsten dem Camus-Gegner Sartre. Doch Sartre war für die Jahre ein Weltereignis, die Stücke in Serie gespielt, die Bücher in zig Sprachen übersetzt, gar von Hollywood umworben (für das er ein nie realisiertes Freud-Drehbuch entwarf).

Schönes Flimmerspiel

Ja, und Hollywood? Wenn nach meinem Zeugnis Frankreich so prägend war - stanzten sich dann nicht auch die Bilder der Traummaschine in unsere Hirne? Eben nicht. Man sah die - oft wahrlich schmucken - Filme, wie man heute in Zahnarztwartezimmern oder beim Friseur Glanzpapierjournale durchblättert; nach kurzer Zeit weiß man nicht, war das Park Avenue oder Vanity Fair? - Letztere gibt es ja schon gar nicht mehr.

So sahen wir natürlich das schöne Flimmerspiel, bestaunten die schimmernden Einbauküchen, die eleganten Automobile. Doch ob es die eine Woche Clark Gable war, die andere Spencer Tracy, Ava Gardner oder Bette Davis: Das tanzte davon.

Es blieb nicht haften, es war nicht widerhakig, nicht so unauslöschlich wie Jean Cocteaus "Orphee"; das Spiegelei auf dem schicken Pumps einer Hollywood-Diva verdarb - die zu Wasser zerrinnenden Spiegel Cocteaus sind unverblichenes Imago des Menschen in seiner irrenden Eitelkeit, des Weges von der Nichtigkeit ins Nichts.

Die amerikanische Vergnüglichkeitsfabrikation - erst später auch eindrücklich wie beispielsweise der junge Marlon Brando in "Die Faust im Nacken" - war ozeanfern vom herrlich-verspielten Amüsement, das Truffaut uns bescherte; selbst der jungenhafte Charme eines Gérard Philipe bot die Möglichkeit zur Identifikation.

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Das Baguette der frühen Jahre

Gewiss, es wäre geradezu albern, wollte man die Lektüre von Ezra Pound leugnen, die von T. S. Eliot, die Theaterbesuche, wenn Thornton Wilder auf dem Programm stand. Wovon ich Zeugnis zu geben suche, das ist etwas anderes. Es ist das Ensemble, gleichsam ein mächtiger Stimmenchor, der aus Paris zu uns herüberschallte: der rasende Sprach-Veitstanz, wahre Giftkaskaden des Louis-Ferdinand Céline wie der feierliche Ton von Louis Aragons Lyrik; die reportagehaften Romane des ehemaligen Spanienkämpfers Mauriac, bald de Gaulles Kulturminister, wie das verrätselt Hymnische der Verse von Paul Éluard.

Es war ein großes, vielstimmiges, auch dissonantes Konzert, das aufwühlte. Kultur ist immer ein Gewebe, durchwirkt von unterschiedlichsten Farben, Tönen, Materialien. Das Wort Kultur stammt vom lateinischen colere = bebauen ab. Wir wurden also "bebaut" von der französischen Kultur.

Da ich die Sprache beim Worte nehme, verzeihe mir Gott einen Ausflug, der aber keine Abschweifung ist. Ein Umweg zum Ziel schon eher. Es wird nämlich wenig wahrgenommen, von wie viel französischem Sprachgut das Deutsche durchzogen ist. Wir alle seufzen über die toll gewordenen kaugummizäh aufgeklebten Anglizismen der zeitgenössischen Umgangssprache; auch ich ärgere mich über den "Hair-Cut" des Provinzfriseurs und die "Dress-Cabin" im örtlichen Schwimmbad, dessen Sauna-Aufgießer zwar ein "Harvard University"-T-Shirt trägt, aber keines englischen Halbsatzes mächtig ist.

Frankreich nicht gewahr

Aber wie so viele von uns sich des skizzierten Einflusses der französischen Kultur nicht gewahr sind - so sind offensichtlich die meisten im Lande nicht gewärtig, dass sie wie selbstverständlich zahllose Wörter und Begriffe des Französischen im Alltag verwenden.

Man kondoliert und gratuliert; man renoviert und dementiert; man sitzt auf einer Chaiselongue und sucht sein Portemonnaie; man beschäftigt einen Monteur, Installateur, vielleicht gar einen Chauffeur; man serviert Ragout, Frikassee oder Roulade mit Sauce, möglicherweise von einem Buffet. Dabei sind zwei "Herkünfte" so lustig wie evident: das Kulinarische und das Militärische. Ob das eine von den adligen Revolutionsemigranten, die ja diesseits des Rheins verblüffenderweise fürstlich Hof hielten, sich herleitet und das andere von den napoleonischen Armeen - das ist strittig. Doch wie das Omelette der feineren Küche zugehört, so die Artillerie, die Kompanie, die Division, das Bataillon, der Marschall und die Kavallerie zweifelsfrei dem Militär.

Am vergnüglichsten jedoch sind verballhornte Ableitungen, skurril oft, weil die deutsche Version den ursprünglichen Sinn des Französischen verdreht. Die Serviette ist eigentlich ein Handtuch, die Taille eine Konfektionsgröße, das Cabinet eine Arztpraxis (!) und ein Parterre existiert so gar nicht (rez-de-chaussée heißt die Etage zu ebener Erde).

Milchkaffee und Baguette

Auch das ständig für Politikertreffen ausgerufene "Frühstück" ist ein sprachlicher Irrtum, eine Verwechslung des déjeuner (Mittagessen) mit dem einsamen petit déjeuner bei Milchkaffee und Baguette. Dass unser "Tschüs" vom Adieu abstammt, kann man noch erahnen. Aber ein wenig rätselhaft bleibt die Ermahnung "Latsch nicht über den großen Onkel", weil man nicht begreift, wie der arme Onkel ins Bild kommt, wenn man nicht weiß, dass ongle Fuß- oder Fingernagel bedeutet. Dass unser "blümerant" abgeleitet wurde von der blaßblauen Farbe bleu mourant, erschließt sich nur über den blaugrauen Farbton des Gesichts kurz vor der Ohnmacht.

Die Lehre aus dem Verwirrspiel? Trotz allen Ärgers sollten wir uns ein wenig weniger aufregen über all den "Coffee-to-go"-Unsinn der Imbissstuben sogar in den 500 Jahre alten Gemäuern von Lübeck oder Lüneburg. Und keine Fisimatenten machen, was ja auch aus dem Französischen kommt. Visitez ma tente - kommt doch in mein Zelt - lockten Napoleons Soldaten die blonden teutschen Maiden; und da sprach die Mama "Nix visitez ma tente" - und du bleibst da.

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