Zum anderen dürfte sich aber auch das Pathosbehaftete, Apodiktische der Manifeste überlebt haben. Sichtbar wird das nicht zuletzt in Istanbul selbst. "Die ganze Stadt ist ein einziges Manifest der Regierung. Die Brücke über den Bosporus und der neue Flughafen sind Teil davon", sagt Selva Gürdoğan. Die Architektin betreibt mit Gregers Tang Thomson das Büro Superpool, sie haben die Ausstellungsarchitektur für die Biennale entworfen. Ein Manifest für Istanbul, diese Stadt im Totalumbau, wollen sie nicht. Da ginge es sowieso nur um Wirtschaftswachstum - zurzeit das stärkste Argument, egal bei was.
"Wir haben versucht, die Definition von dem, was ein Manifest sein kann, auseinanderzunehmen", sagt Zoë Ryan. Was so viel heißt wie: Alles kann ein Manifest sein. Das Videospiel, das jeden für eineinhalb Minuten zum Helden macht, genauso wie die Möbel, die im Gezi-Park während der Proteste entstanden sind, oder das Alphabet, das seine Buchstaben nach unten hin bauchig schwer werden lässt, damit die Menschen, die an Dyslexie leiden und deswegen Wörter und zusammenhängende Texte schlecht lesen können, sich leichter tun.
So unterschiedlich all diese Projekte sind, so eint sie doch ihr Interesse am Alltag. Statt einer fernen Utopie wird hier der zukünftige Bodensatz unseres Lebens unter die Lupe genommen. Und genau das macht diese Biennale so politisch. Design für den Alltag zu entwerfen, das bedeutet heute, politische Entscheidungen zu treffen. Was und wie etwas hergestellt wird, sind Fragen, die Konsequenzen für die Zukunft der Erde haben.
Dass Herstellung auch lokale politische Folgen haben kann, zeigt das Projekt "Crafted in Istanbul". Der Designer Bilal Yilman hat begonnen, dafür ein Netzwerk zwischen jungen Designern und den letzten verbleibenden Handwerkern in der Innenstadt herzustellen. Die Zeit drängt. Nicht nur sterben die letzten Schreiner, Schweißer und Drechsler, die ihr Handwerk noch von griechischen und armenischen Meistern gelernt haben, langsam aus. Die Regierung will sie auch mit allem Nachdruck aus dem Zentrum vertreiben. Ihre schmutzigen Werkstätten passen nicht ins Bild, das den Touristen hier geboten werden soll.
Sichtbar machen, was da ist, um es zu schützen und es gleichzeitig mit dem Morgen zu verknüpfen, das könnte auch über dem Projekt des japanischen Architekturbüros Atelier Bow-Wow stehen, das mit Istanbuler Studenten den Mikrokosmos auf der Galata-Brücke untersucht und dokumentiert hat, dieses Dicht-an-Dicht von Läden und Restaurants, Fischern und Sandwich-Verkäufern, das eine Lebendigkeit erzeugt, von der heutige Stadtplaner nur träumen können.
Apropos Stadtplanung: Das, was Superpool mit der griechischen Schule gemacht hat, könnte man dann doch als Manifest für Istanbul lesen. In einer Stadt, die lieber abreißt als saniert, wirkt der behutsame unverkitschte Umgang mit der historischen Bausubstanz geradezu radikal. Er schafft den perfekten Rahmen für die Designbiennale, die sich mit ihrer zweiten Ausgabe als Manifest ihrer eigenen Bedeutung etabliert hat.
The Future Is Not What It Used To Be. Zweite Istanbul Designbiennale. Bis 14. Dezember. Infos unter www.iksv.org/en