Design:100 Jahre biegsames Licht

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(Foto: Jenner-Egberts Foto+Film)

Von Michael Kohler

Es ist gar nicht mal so lange her, dass eine Leselampe mit Schwanenhals die Welt beinahe zu Tränen rührte. An einem regnerischen Tag fand sie sich als Sperrmüll auf der Straße wieder und musste mitansehen, wie eine neue Leuchte ihren Platz im warmen Wohnzimmer einnahm. Am Ende des Werbefilms trat ein durchnässter Mann ganz dicht an die Kamera heran: "Vielen von Ihnen tut diese Lampe leid", sagte er: "Weil Sie verrückt sind. Eine Lampe hat keine Gefühle, und eine neue ist viel besser." Vermutlich haben Lampen tatsächlich keine Gefühle, auch wenn sie die Köpfe so schön traurig hängen lassen können. Aber sie haben sich im Zeitalter der Elektrizität nun einmal zu derart treuen Begleitern des arbeitenden (und lesenden) Menschen entwickelt, dass man sie nicht einfach so vom Schreibtisch schubst. In Deutschland begann diese innige Beziehung genau vor einhundert Jahren: 1919 erhielt der Ingenieur Curt Fischer ein Patent für eine verstellbare Wandleuchte mit Scherenarm. Fischer hatte bemerkt, dass die Arbeiter in seiner Porzellanpressenfabrik sich oft selbst im Licht standen und ersetzte die bis dahin üblichen Deckenleuchten durch seine "Midgard" getaufte Arbeitslampe. Mit ihr ließ sich das Licht dorthin lenken, wo es gebraucht wurde, und dies zudem mit einer Hand. In den folgenden Jahren entwickelte Fischer seine Erfindung fort und ersetzte den robusten Scherenarm durch eine deutlich zierlichere Konstruktion für das Büro. Diese um 1924 entstandene Tischarmleuchte trug einen offenen Korb auf ihrem elegant geschwungenen Hals, wurde mit einem Schraubgewinde an Tisch- oder Regalplatten fixiert und verfügte bereits über zwei Gelenke. Mit dem dritten Gelenk am Lampenschirm war dann die Blaupause für sämtliche bis heute hergestellten Arbeitsleuchten perfekt. Fischers Urlampe mit Scherenarm ist derzeit in einer Ausstellung über "100 Jahre lenkbares Licht" im Kölner Museum für Angewandte Kunst zu sehen. Sie ist zwar nicht ganz so biegsam wie die Schlange im Midgard-Markenzeichen. Aber sie lässt den Kopf nicht hängen. Ganz im Gegenteil. Mit erhobenem Haupt wirkt sie, als könnte sie jederzeit zuschnappen.

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