Design-Ausstellung in London:Sex Pistols und ein Fetisch-Stuhl

Was bedeutet es, britisch zu sein? Eine groß angelegte Ausstellung in London begibt sich auf die Suche nach einer nationalen "Design-Identität" - und findet sie auch fernab der Insel, sogar in Kalifornien.

Alexander Menden, London

Auf die Frage, was gutes Design sei, gab der Industrie-Designer Dieter Rams in den achtziger Jahren eine Antwort. Seine zehn "Design-Gebote" forderten Innovation, Nützlichkeit, Ästhetik, Verständlichkeit, Unaufdringlichkeit, Ehrlichkeit, Langlebigkeit, Gründlichkeit, Umweltverträglichkeit und "so wenig Design wie möglich".

Design-Ausstellung in London: Königliche Reklame: Mit diesem Poster warben 1977 die "Sex Pistols".

Königliche Reklame: Mit diesem Poster warben 1977 die "Sex Pistols".

(Foto: Jamie Reid, Foto von Victoria and Albert Museum)

Komplizierter wird die Fragestellung, wenn sie sich nicht auf die Qualität, sondern auf die Herkunft von Designobjekten bezieht. Zum Beispiel: Was ist britisches Design? An einer Antwort versuchen sich nun die Kuratoren Ghislane Wood und Christopher mit einer Schau im Londoner Victoria & Albert Museum.

Es ist die erste Ausstellung des weltgrößten Museum für angewandte und dekorative Kunst, die sich so umfassend mit britischem Nachkriegsdesign befasst. Das überrascht einerseits, da das Museum den überwiegenden Teil der gut 300 ausgestellten Stücke seiner eigenen, kolossalen Sammlung entnehmen konnte.

Andererseits ist es ein derart ausufernder Bereich, dass es schon einigen Mutes bedarf, ihn sich vorzunehmen. Welcher andere Überbegriff brächte schon so disparate Arbeiten wie Basil Spences Entwurf der Kathedrale von Coventry, Malcolm Sayers Jaguar "E-Type" und Jamie Reids Design für die Sex-Pistols-Single "God Save the Queen" zusammen?

Olympische und Video-Spiele

Die Londoner Schau kämpft mit dem gleichen Problem, denen sich Kuratoren im V&A immer gegenüber sehen: Die drei Ausstellungssäle sind so groß, dass die Menge an Exponaten, die nötig ist, um sie zu füllen, jeden noch so gutwilligen Besucher überfordert. Aber im Fall von "British Design" ist diese Überforderung Teil der Grundidee: Sie will mit allem Nachdruck zeigen, wie viel bleibendes und einflussreiches Design in den vergangenen sechs Jahrzehnten auf der Insel entstanden ist.

Die Zeitklammer der Ausstellung liefern die ersten Londoner Olympischen Spiele 1948 und die zweiten, die kommenden Juli beginnen. Der Gründungsmythos der frühen Jahre ist das Festival of Britain (1951), das den Modernismus, mit der üblichen insularen Verspätung, ins Bewusstsein der breiten britischen Öffentlichkeit brachte: Gebäude wie der "Dome of Discovery" und die noch heute Maßstäbe setzende Royal Festival Hall gaben den Briten zum ersten Mal Gelegenheit, sich mit der Moderne unmittelbar auseinanderzusetzen.

Die Schau bedient, absolut zu Recht, die Erwartungen von Besuchern, die der Materie ohne spezielle Vorkenntnisse begegnen: Swinging London und Canarby Street, die Beatles (unter anderem in Form von Richard Hamiltons "White-Album"-Cover), Foale & Tuffins Minikleid und der Morris Mini Minor, Malcolm McLarens Masterplan für den Punk und Peter Savilles Designs für Factory Records.

Integrative Kraft der britischen Gesellschaft

Die "Innovation", auf die sich der Untertitel der Schau beruft, kann man speziell in der Abteilung Video-Spiele begutachten, "Tomb Raider" etwa wurde in Derby erdacht. Was Rams' Forderungen an gutes Design angeht, so ist es wie immer nicht das ausgefallene, sondern das alltäglichste Industriedesign, das ihnen am ehesten gerecht wird: Allen Jones' Fetisch-Stuhl von 1961 mag die nackten Frauen-Möbel in Stanley Kubricks "Uhrwerk Orange" inspiriert haben.

Aber der zwei Jahre später entstandene, stapelbare, nützliche und langlebige "Mark II"-Plastikstuhl des Tüftlers Robin Day ist, millionenfach produziert, aus öffentlichen Gebäuden nicht wegzudenken. In solchen Stücken feiert das Design seine Triumphe.

Je länger man in der Schau verweilt, desto klarer wird, dass die eigentliche Frage, die das V&A zu beantworten versucht, lautet: "Was heißt es, britisch zu sein?" Die Kuratoren geben darauf, wenn auch eher implizit durch ihre Auswahl, eine Antwort, die sonst vor allem Amerika für sich beansprucht: Es ist die integrative Kraft der britischen Gesellschaft, die hier eine solche Masse bedeutender Design-Ideen entstehen ließ.

Britisches Design internationalen Ursprungs

Denn viele der prominentesten Figuren, deren Arbeiten man im V&A sieht, sind Immigranten oder Kinder von Immigranten. Kansai Yamamoto, der David Bowies Ziggy-Stardust-Bühnenoutfit gestaltete, ist Japaner; die "Biba"-Gründerin Barbara Hulanicki wurde in Warschau geboren; die Eltern des Savile-Row-Ikonoklasten Ozwald Boateng stammen aus Ghana.

Und selbst den modernistischen Schub des Festivals of Britain hätte es ohne Figuren wie Sir Misha Black (geboren in Aserbaidschan) und Ernö Goldfinger (geboren in Ungarn) nie gegeben. Britisch sein hieße demnach, die kreativen Ressourcen einer offenen Gesellschaft zu nutzen und diese Chance jedem ohne Ansehen der Person zu geben.

Was nicht ganz in dieses Bild passen will, ist die Einbeziehung des Apple-Designers (und Rams-Jüngers) Jonathan Ive. Er stammt zwar aus London, schuf all seine bedeutenden Designs wie den iPod aber in Kalifornien. Apple ist der Inbegriff einer globalen Marke, die mit ihrem universellen Anspruch und ihrem Hang zur Synchronisation der Systeme einen separaten Überbau selbst der integrationsstärksten Gesellschaft bildet.

Doch sogar hier, wo die Ausstellung an ihre konzeptionellen Grenzen stößt, gibt sie einen interessanten Denkanstoß: Die Idee einer nationalen "Design-Identität" ist in einer globalisierten Welt womöglich endgültig museumsreif.

"British Design 1948 - 2012: Innovation in the Modern Age" im Victoria & Albert Museum London, bis 12. August. Info: www.vam.ac.uk, Katalog: 25 Pfund.

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