Design:Als die Möbel fliegen lernten

Lesezeit: 3 min

Schönheit für alle: Eine prächtige Ausstellung im Stedelijk-Museum feiert zum ersten Mal die Architekten und Designer der Amsterdamer Schule.

Von Laura Weissmüller

Der Wunsch, sich zu bewegen, ist unübersehbar. Da streckt sich die Rückenlehne eines Stuhls so in die Länge, dass ihre Spitze einer Raketenabschussrampe ähnelt. Da breiten sich die Armlehnen zu beiden Seiten aus wie Fledermausflügel, die Füße wiederum, auf denen sich hier Sessel, Sofa, Tisch und Buffet niedergelassen haben, sehen allesamt aus, als hätten sie sich Schlittschuhe mit breiten Kufen angelegt. Man würde sich nicht wundern, wenn diese Möbel sich damit in Bewegung setzen würden. Und wenn sie dazu Laute abgeben würden, ebenfalls nicht. Das Design wirkt auch so wie die Kulisse für die Fortsetzung von "Metropolis". Nur etwas fröhlicher, mit all den Tiermotiven.

Die Architektur der Amsterdamer Schule ist gut bekannt, schon deswegen, weil ihr jeder in der gleichnamigen Stadt fortwährend begegnet, etwa auf den unzähligen Brücken, die hier über die Grachten führen, vor allem aber wegen der Häuser mit ihren geschwungenen Backsteinfassaden und der großen Lust an Dekoration. Die Fassade des ehemaligen Hauses der Schifffahrt etwa, heute ein luxuriöses Hotel unweit des Hauptbahnhofs, wartet mit derart vielen Fabelwesen, Wassertieren und geometrischen Ornamenten auf, dass der Betrachter eine kleine Ewigkeit davor verharren kann.

Dass die Schöpfer dieser lustvoll exaltierten Architektur sich nicht mit der äußeren Erscheinung zufrieden geben wollten, dass ihr Gestaltungswille bis tief ins Innere reichte, vom Teppich und Türstock bis zum Briefbeschwerer und der Gardine, das war viele Jahre kaum bekannt. Weswegen jetzt das Stedelijk-Museum mit seiner prächtigen Ausstellung "Wohnen in der Amsterdamer Schule" Pionierarbeit leistet. Es ist die erste Schau überhaupt zu dieser Stilrichtung, deren Vertreter sich selbst nie als Gruppe sahen, eher als loser Verbund von Gleichgesinnten. Gegen strikte Regeln oder ein festes Dogma sprach schon ihr großes Interesse an der Welt.

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(Foto: Erik & Petra Hesmerg/Stedelijk Museum)

Bis ins kleinste Detail: Der Bildhauer Hildo Krop entwarf dieses Bücherregal inklusive der Holzschnitzerei um 1927.

Das Stedelijk-Museum leistet mit seiner prächtigen Ausstellung "Wohnen in der Amsterdamer Schule" Pionierarbeit.

Denn dass der Gestaltungswille der Schöpfer bis tief ins Innere reichte, das war viele Jahre kaum bekannt.

Die Gestalter wollten eine schönere Welt für jeden entwerfen, für den Bankdirektor wie für den Werftarbeiter.

Man würde sich nicht wundern, wenn diese Möbel sich in Bewegung setzen würden. Und wenn sie dazu Laute abgeben würden, ebenfalls nicht.

Der Wunsch nach Schönem für alle mag heute naiv wirken. Wer die fein geschliffenen Lampen studiert, erkennt, wie teuer sie gewesen sein dürften.

Auf der Weltausstellung in Paris von 1925 barst der niederländische Pavillon schier vor Tierskulpturen, Ornament und expressiver Farbigkeit.

Die Weltwirtschaftskrise vertrieb den Wunsch nach Opulenz und Ornament. Die Welt der Amsterdamer Schule...

...ging schließlich mit dem Krieg endgültig zu Ende.

Was dabei verloren ging, lässt sich jetzt endlich wiederentdecken.

Wie nahe sich jedoch viele in ihrer Arbeit waren, allen voran die Architekten Michel de Klerk (1884-1923) und Piet Kramer (1881-1961) sowie der Bildhauer Hildo Krop (1884-1970), die alle am Bau des Schifffahrtshauses beteiligt waren, zeigt sich im Stedelijk gleich im ersten Saal. Eine Pyramide aus Uhren ist dort aufgebaut, viele gleichen sich fast aufs Haar, alle besitzen diesen Bewegungsdrang und sind reich dekoriert. Das Interesse an Uhren gehörte zur Zeit. Am 1. Mai 1909 führten die Niederlande eine verbindliche Uhrzeit ein, ausgerichtet an einer Amsterdamer Kirchenuhr.

Die Epoche spiegelt sich aber auch sonst in den Werken der Amsterdamer Schule. Nicht nur in den Sujets, sondern auch in ihrem sozialistischen Anspruch. Die Gestalter wollten eine schönere Welt für jeden entwerfen, für den Bankdirektor wie für den Werftarbeiter. Dass ihnen das in der Architektur tatsächlich gelang - viele der Backsteinhäuser entstanden als sozialer Wohnungsbau - hatte mehr mit der Stadt als mit den Schöpfern zu tun. Denn der aufwendige Dekor, die geschwungenen Fassaden, Metallgitter und Schnitzereien kosteten. Amsterdam zahlte - und verbot gleichzeitig, dass sich die Architekten mit der Innengestaltung beschäftigten. Vermutlich aus pragmatischen Gründen.

Der Wunsch nach Schönem für alle mag heute naiv wirken. Und wer die prächtigen Tapeten, die schweren Holzmöbel und fein geschliffenen Glaslampen der Ausstellung studiert, erkennt, wie weit schon damals Wunsch und Wirklichkeit auseinanderklafften, so teuer dürften die kunstvoll gefertigten Handarbeiten gewesen sein. Gleichwohl: Offenbar war damals der Anspruch auf Schönheit und Liebe zum Detail nicht nur einer bestimmten Schicht vorbehalten. Das ist heute anders. Die meisten Beispiele von sozialem Wohnungsbau etwa deprimieren schon beim Anblick. Lieblos gestapelte Kisten in Reih und Glied.

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Die größten Erfolge feierte diese nationale Ausprägung des Art déco in den Zwanzigern. Auf der Weltausstellung in Paris von 1925 barst der niederländische Pavillon schier vor Tierskulpturen, Ornament und expressiver Farbigkeit. Ähnlich erging es der Filiale des Edelkaufhauses de Bijenkorf, die 1926 in Den Haag eröffnet wurde. Doch die Weltwirtschaftskrise vertrieb den Wunsch nach Opulenz und Ornament. Das Einfache war jetzt gefragt, De Stijl und Bauhaus im Kommen. Die Welt der Amsterdamer Schule ging schließlich mit dem Krieg endgültig zu Ende. Was dabei verloren ging, lässt sich jetzt endlich wiederentdecken.

Wohnen in der Amsterdamer Schule. Entwürfe für das Interieur 1910 - 1930 . Stedelijk Museum, Amsterdam. Bis 28. August. www.stedelijk.nl.

© SZ vom 04.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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