Das Publikum kommt derzeit nur zögerlich in die Theater zurück. Das hat auch mit dem Katastrophenmechanismus zu tun, mit dem die Gesellschaft gerade vom Regen der einen Krise in die Traufe der nächsten taumelt. Klimawandel, Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation, neuerdings kursiert etwas von Affenpocken. Da eine Uraufführung zum Reaktorunglück von Fukushima herauszubringen, elf Jahre danach, und das auch noch im großen Haus, ist vom Staatstheater Nürnberg ein wackerer Akt. Große Strahlkraft hat das erst mal nicht. Am Premierenabend ist die Besetzung im runtergekühlten Parkett denn auch sehr, sehr lückenhaft, und es will einem, anders als draußen im schönen Mai, nicht warm werden. Die unwirtlichen Wintervideobilder aus der verseuchten Gegend um das Kernkraftwerk tun ein Übriges.
Aber es sei Entwarnung gegeben: "Der unsichtbare Reaktor" von Nis-Momme Stockmann ist weniger ein knallhart problemorientiertes Nuklearkatastrophen-Stück als ein komisch selbstreflexives Künstlerdrama - und in der Regie des vom Puppentheater kommenden, mit großer szenischer Fantasie begabten Jan-Christoph Gockel hat es ohnehin einen theatersinnlichen Schau-, Denk- und Mehrwert. So schiebt sich am Anfang zur wohligen Melodie von Charles Trenets "La Mer" gleich mal ein ikonografisches Werk der japanischen Kunst als Papp-Tsunami herein: Hokusais "Die große Welle vor Kanagawa". Und dann tanzen lebensgroße, aus dem Schwarzlicht der Bühne neongrün herausfluoreszierende Strichmännchen eine Art Verstrahlungstanz. Es ist der Opener für einen Abend, der bei aller Katastrophen-Fakten-Kontamination ironisch gebrochen und verschachtelt komplex ist.
Man muss dazu die Entstehungsgeschichte erzählen, denn die ist das eigentliche Drama. 2012 reiste Stockmann auf Einladung des Goethe-Instituts nach Fukushima. Das war gerade mal ein Jahr nach dem durch ein Erdbeben und einen Tsunami ausgelösten atomaren Super-GAU. Er recherchierte, filmte, interviewte Menschen. 2016 tat er dies noch einmal, ohne bis dahin aus dem vielen Material etwas geformt zu haben. Für 2021, zum zehnten Jahrestag des Unglücks, bestellte schließlich das Theater Nürnberg ein Stück bei ihm. Dafür sollte sich Stockmann erneut an den Ort des Geschehens begeben, gemeinsam mit dem Regisseur Gockel. Der hat für sein "Theater der Reise" schon Recherchegeschichten aus Burkina Faso oder dem Kongo sehr spielerisch mit Film- und Live-Elementen aufbereitet. Aber dann machte Corona die Exkursion unmöglich.

Geplatzt ist die Sache trotzdem nicht, denn Gockel hatte inzwischen "Family Romance, LLC" von Werner Herzog gesehen, einen Film über die gleichnamige japanische Agentur, bei der man Ersatzväter, Ersatzfreunde und sonstige Stellvertreter für alle Lebenslagen mieten kann. Gegründet wurde diese Agentur von dem Schauspieler Ishii Yuichi, der in Herzogs Film sich selbst spielt. Exakt diesen Herrn Ishii hat auch das Nürnberger Team gebucht, um ihn als Ersatzmann nach Minamisōma in der Präfektur Fukushima zu schicken. Sein Auftrag: als Stellvertreter von Nis-Momme Stockmann - auch in einem ähnlichen Karomantel wie er und begleitet von einer Kamera - jene Orte und Menschen aufzusuchen, die dieser bereits besucht hatte. Die Bilder davon werden auf der Bühne auf einer prächtig goldgerahmten Videoleinwand gezeigt: Herr Ishii, wie er durch die trostlose Landschaft fährt, am Pazifik steht, durch eine Gedenkstätte streift. Er trifft auch jene Frau Wakamatsu, die Stockmann damals zu vielen Kontakten verholfen hat. Ihr Mann, der Lyriker, Essayist und Atomgegner Wakamatsu Jōtarō, ist inzwischen gestorben. Er bekommt eine Extra-Würdigung.
Während der adrette Herr Ishii die Vor-Ort-Arbeit erledigt, gibt es auf der Bühne vier weitere Stockmann-Stellvertreter, verkörpert von Julia Bartolome, Moritz Grove, Llewellyn Reichman und Raphael Rubino, alle höchst spielfreudig. Sie haben etwas von Playmobilmännchen, ausstaffiert mit Holzfällerhemden, Brillen und akkurat gescheitelten Plastikhaubenfrisuren in der Art, wie der Autor sie zu tragen beliebt. Dessen solcherart vervielfältigtes Ringen mit seinem Stoff und seiner Notizzettelwirtschaft ist so eitel wie komisch. Das Reaktorunglück, verhandelt als Schreibkrise. Aber auch als Aneignungsproblem. Wie anfangen? Wie überhaupt von der Katastrophe erzählen? Was kann hier "Wahrheit" sein? Wie hegemonial oder katastrophentouristisch ist der europäische Blick?
"Je näher man einer Sache kommt, desto unschärfer wird sie"
"Man kann es nur hysterisieren oder verharmlosen", lautet gleich zu Beginn die Befürchtung. Die Inszenierung verfällt weder dem einen noch dem anderen, sondern hat mit dem Stellvertreter-Prinzip eine Lösung, die sich auf der Bühne schlüssig weiterspinnen lässt. Schließlich ist auch das Theater immer Repräsentation. Die Ausstatterin Julia Kurzweg hat einen nach hinten sich vervielfältigenden Kulissenraum im Stil einer barocken Gassenbühne gebaut. Hier kommt es zu schönen Deko-Spielereien und Video-Spiegeleien. Schon das gewölbte Portal mit den altmodischen Zahnrädern oben dran setzt dem Dokumentarcharakter des Reaktor-Themas ganz betont den Kulissenzauber der Illusionsmaschine Theater entgegen.
Das überzeugt als Konzept total, ist als Vexierspiel und Befragung von Wahrnehmung und Repräsentation klug gedacht und gemacht. Nicht zuletzt steht das ganze Stück stellvertretend für den Versuch, eine Katastrophe zu fassen, sei es eine atomare Verseuchung oder eine Seuche. In der Ausführung krankt es dann aber doch am übergroß zur Schau gestellten Ego des Autors. So "unsichtbar" der titelgebende Reaktor bleibt ("Je näher man einer Sache kommt, desto unschärfer wird sie"), desto sichtbarer wird er, Stockmann, um dessen Befindlichkeiten es allzu sehr geht, auch in den (teils ein wenig öden) Japan-Szenen. Der japanische Stellvertreter steuert da auch wenig Eigenperspektive bei. Auf die Frage, was ihm persönlich im Fukushima-Memorial-Museum nahe gegangen sei, gesteht Herr Ishii, dass er vor allem darauf geachtet habe, "wie ich vor der Kamera wirke". Diese Eitelkeit passt dann aber auch wieder ganz gut.