Gleich mit dem ersten Spotlight ist der Krieg im Raum. Die vier schlammfarbenen Gestalten, die da exponiert im Rampenlicht stehen, scheinen direkt aus den Schützengräben der Ukraine zu kommen, versehrte Gefreite, ihr Blick so ausdruckslos wie ihr Tonfall, ihre Gummimäntel und Uniformen lehmverschmiert. Das ist erst mal ein starkes Bild, ungeachtet dessen, dass man von dem, was sie sagen, nur ein paar Schlagworte versteht. Geschmuggelte Waffen "aus Ungarn herauf, aus Litauen herunter", "roter Hahn auf'm Dach", ein "Armeleute-König", der kommen wird. Die Sprache, in der sie sprechen, ist ein spezielles Hofmannsthal-Deutsch, leicht antiquiert und historisierend, insgesamt sperrig und nicht sehr mundgängig, wie an diesem Abend im Münchner Residenztheater von den sechs beteiligten Schauspielerinnen und Schauspielern noch öfters demonstriert werden wird. Wobei einige besser damit zurande kommen, andere schlechter. Eine wiederbelebende Infusion erfährt der Textfindling in puncto Expression und Interpretation jedenfalls nicht, das sei schon mal vorausgeschickt.
Gegeben wird Hugo von Hofmannsthals sehr ambitiöses, höchst selten gespieltes Trauerspiel "Der Turm", in dem der österreichische Dramatiker mit großem theatralischem Aplomb einen barocken Stoff adaptierte: Calderón de la Barcas Schauspiel "Das Leben ein Traum" von 1636. König Basilius, Regent eines "mehr der Sage als der Geschichte" angehörenden Königreichs Polen, hält darin seinen Sohn Sigismund in einem Turm gefangen, weil ihm prophezeit wurde, der Sohn werde sich gegen ihn erheben und ihn töten. Nach 22 Jahren Haft wird Sigismund testhalber ins Schloss geholt, um zu schauen, wie er sich als Herrscher machen würde. Da kommt es dann schnell zu einem aggressiven Akt gegen den Vater. Zurück im Turm, wird ihm das Geschehene bei Calderón als Traum suggeriert.
Hofmannsthal nimmt das als Ausgangssituation, um mit der Erfahrung des Ersten Weltkriegs - mit dem für ihn niederschmetternden Untergang der Habsburger Monarchie - prinzipiell nach der Legitimation von Herrschaft und Gewalt zu fragen und ein großes Weltenchaos zu beschwören. Er quälte sich über viele Jahre mit diesem Stück, von dem es mehrere Varianten gibt: eine erste, 1923 und 1925 in der Zeitschrift Neue deutsche Beiträge publizierte Fassung in Versform, eine zweite in Buchform und eine dritte, für das Theater bestimmte Fassung von 1927, in Prosa.
Für Sigismund, diese Kaspar-Hauser-Figur, geht es in keiner Fassung gut aus
Hofmannsthal bringt zwei Gegenkräfte ins Spiel, die den naiv-unschuldigen Sigismund, diese Kaspar-Hauser-Figur, für ihre politischen Zwecke einspannen. Das ist zum einen Julian, der Gouverneur des Turmes, der den Königssohn seit dessen Geburt wie ein Tier gefangen hielt, ihm aber auch Latein und Lesen beibrachte. Er will, dass sein "Geschöpf" Sigismund an der Spitze einer inzwischen ausgebrochenen Rebellion seinen tyrannischen Vater Basilius stürzt. Der andere ist der Soldat Olivier, ein brutaler Schlächter, Protagonist des Aufruhrs von unten. In keiner der Fassungen geht es gut aus für Sigismund. Tödlich attackiert übergibt er in der utopischen ersten Fassung am Sterbebett die Herrschaft an einen pazifistischen "Kinderkönig", dessen Heer aus zehntausend Kindern Schwerter zu Pflugscharen umschmilzt. In der resignativen Bühnenfassung von 1927 hingegen siegt der kaltblütige Rebell Olivier, der Sigismund heimtückisch erschießen lässt.

Nora Schlocker hat für ihre Inszenierung am Residenztheater auf die letzte Fassung zurückgegriffen und lässt diese, stark gekürzt und um sehr viel Personal bereinigt, in nicht einmal zwei Stunden in kalten, surrealen Bildern aufflackern. Das hätte, gerade in der jetzigen Zeit, eine spannende Wiederentdeckung eines vergessenen Dramas um grundlegende Fragen von Autokratie, Gewalt, Tyrannenmord und Machtnachfolge werden können. Aber selbst wenn man sämtliche Augen zudrückt, weil dieses handlungswirre, vielleicht zu Recht vergessene Stück ja schon eine ziemliche Herausforderung und die Saison noch jung ist, kommt man nicht umhin, die Unternehmung als misslungen zu bezeichnen, als eine beflissene, zunehmend schale Kunstanstrengung.
Irina Schicketanz hat die große Resi-Bühne verengt und einen hohen, halbrunden Schacht mit Betonsockel hineingebaut: das Turmverlies, in dem Sigismund (Lisa Stiegler) vegetiert. Er kauert auf einem auf halber Höhe an der grauen Kerkerwand befestigten Stuhl. Dass es sich bei dem Wesen dort oben um einen Menschen handelt, erkennt man erst gar nicht. Verfremdet durch Videoprojektionen sieht diese bibbernde, angegurtete, viehisch schreiende Kreatur wie ein Alien aus. Überhaupt wird in diesem Einheitsbühnen-Kerker die Atmosphäre eines Horrorthrillers bemüht. Großaufnahmen von Spinnen und von aufgerissenen, zuckenden Augen flirren über die Betonwand, die Lichtkegel sind kalt und stechend, es gibt ein bedrohliches Knistern, Britzeln und Gurgeln, ein Geflacker und Getöne. Wohlfeiles Schreckensdesign aus der Hightech-Theaterkiste.
"Woher - so viel Gewalt?" lautet die philosophische Grundfrage des Stücks
Es ist ein unintelligibler, hohl tönender Abend. Die Schauspieler scheinen streckenweise selber nicht ganz zu verstehen, was sie, teils in Mehrfachrollen, spielen (sollen). Nicht nur gilt es, Hofmannsthals hochfahrende Sprache zu durchdringen, sie müssen auch die wenig hilfreichen, jede Figur prototypisch-exzentrisch überzeichnenden Kostüme von Bettina Werner überspielen. Seien es Strumpfhosen, Wams und Barockperücken, wie im Fall von Johannes Nussbaum als Wächter Anton und der hier zu plumpem Aufsagetheater verleiteten Katja Jung in der Rolle des Turm-Chefs Julian. Oder eine Soldatenmonsteraufmachung wie die des schlussendlich obsiegenden Olivier, den Valentino Dalle Mura als eintönigen Einarmigen gibt, mit stierem Blick, Wundpflaster-Backe und blutiger Axt in der verbliebenen Hand. Selten sah das Residenztheater so nach Provinztheater aus.
Am besten behauptet sich da noch Michael Goldberg, der als König Basilius in einem aufgeplusterten weißen Taft- und Tüllkleid wie ein Federvieh ausschaut, ein rich chick mit Schmalztolle und schwer am Hals lastendem Perlencollier als Insigne der Macht. Aus seiner Weigerung abzutreten macht der eitle Geck vor dem Revolutionsgericht eine komische Nummer. Auch Lisa Stiegler schlägt sich wacker in ihrem Golem-Kostüm, das sie wie ein nacktes, unförmiges Riesenbaby aussehen lässt. In dieser Kreatürlichkeit muss dieser Sigismund auch seinem Vater gegenübertreten. "Woher - so viel Gewalt?" ist das Erste, was er diesen fragt. Es ist die philosophische Grundfrage des Stücks.
Was nach der Eskalation zwischen Vater und Sohn passiert, Sigismunds Schein-Hinrichtung und spätere Inthronisierung, Julians Versuche, die Geschicke machtpragmatisch zu lenken, die Rebellion des Volkes, Sigismunds freiwillige Rückkehr in seinen Turm, all diese chaotischen Vorgänge inszeniert Schlocker in kurz aufblendenden Albtraumbildern mit Blackouts und Gewummer dazwischen. Ohne dass man viel Inhalt mitbekäme. Außer dass Gewalt abgelöst wird durch Gewalt. Im Staatstheater gewesen. Nichts davon gehabt.